Die Liebeshandlung
Abends Anfang März, als sie in die Rockefeller-Bibliothek ging, um sich die Zusatzlektüre für Semiotik 211 zu holen, war Leonard ebenfalls dort. An die Theke gelehnt, unterhielt er sich angeregt mit dem Mädchen, das die Ausleihe bediente und unglücklicherweise ziemlich süß war, mit vollbusigem Bettie-Page-Appeal.
«Trotzdem, denk mal drüber nach», sagte Leonard gerade. «Denk aus der Sicht der Fliege.»
«Okay, ich bin die Fliege», sagte das Mädchen mit einem kehligen Lachen.
«Wir bewegen uns in Zeitlupe auf sie zu. Sie sieht dieKlatsche aus Lichtjahren Entfernung kommen. Fliegen haben die Ruhe weg, so à la: ‹Weck mich, wenn die Klatsche näher dran ist.›»
Auf Madeleine aufmerksam geworden, sagte das Mädchen zu Leonard: «Sekunde mal.»
Madeleine hielt ihr den Bestellschein hin, und das Mädchen nahm ihn entgegen und verschwand im Magazin.
«Holst du dir den Balzac?», sagte Leonard.
«Ja.»
«Balzac, die Rettung.»
Gewöhnlich hätte Madeleine eine Menge darauf zu sagen gehabt, alle möglichen Kommentare zu Balzac. Aber ihr Gehirn war wie weggeblasen. Sie vergaß sogar zu lächeln, bevor er den Blick abwandte.
Bettie Page kam mit Madeleines Bestellung zurück, schob ihr das Buch hin und wandte sich sofort wieder Leonard zu. Er wirkte anders als im Seminar, aufgedrehter, unter Strom. Wie ein spinnerter Jack Nicholson zog er die Augenbrauen hoch und sagte: «Meine Stubenfliegentheorie resultiert aus meiner Theorie darüber, warum die Zeit umso schneller zu vergehen scheint, je älter du wirst.»
«Und warum das?», fragte das Mädchen.
«Es verhält sich proportional», erklärte Leonard. «Wenn du fünf bist, hast du erst ein paar tausend Tage gelebt. Wenn du aber fünfzig bist, hast du schon um die zwanzigtausend Tage hinter dir. Also kommt dir ein Tag, wenn du fünf bist, länger vor, weil er einen größeren Prozentsatz des Ganzen darstellt.»
«Ja, klar», alberte das Mädchen, «logo.»
Aber Madeleine hatte verstanden. «Das leuchtet ein», sagte sie. «Ich hab mich schon immer gefragt, wie das eigentlich kommt.»
«Es ist nur eine Theorie», sagte Leonard.
Bettie Page tippte ihm auf die Hand, um sich Gehör zu verschaffen. «So schnell sind die Fliegen aber auch nicht immer», sagte sie. «Ich hab schon welche mit bloßen Händen gefangen.»
«Vor allem im Winter», sagte Leonard. «Als Fliege wäre ich wahrscheinlich auch eine von denen. Eine von diesen verdösten Winterfliegen.»
Madeleine hatte keinen triftigen Grund, noch länger im vollbesetzten Lesesaal herumzuhängen, und so steckte sie den Balzac in die Tasche und ging.
Sie begann, sich an den Tagen des Semiotik-Seminars anders zu kleiden. Sie zog ihre Diamantstecker aus den Ohrläppchen und ließ sie nackt. Sie befragte den Spiegel, ob ihre Annie-Hall-Brille wohl etwas nach New Wave aussah. Sie fand das nicht und entschied sich für die Kontaktlinsen. Sie kramte ein Paar Beatles-Stiefel hervor, die sie sich auf einem Kirchenbasar in Vinalhaven gekauft hatte. Sie schlug den Kragen hoch und trug mehr Schwarz.
In der vierten Woche machte Zipperstein die Rolle des Lesers in Umberto Ecos
Lector in fabula
zum Thema. Das Buch hatte es Madeleine nicht besonders angetan. Sie, in ihrer Eigenschaft als Leserin, war nicht so sehr am Leser interessiert. Immer noch ergriff sie Partei für dieses Wesen, das zunehmend in den Schatten gestellt wurde: den Schriftsteller. Madeleine wurde den Verdacht nicht los, dass die meisten Semiotik-Theoretiker als Kinder unbeliebt gewesen waren und man sie oft schikaniert oder übergangen haben musste, weshalb sie ihre unverdaute Wut später auf die Literatur gerichtet hatten. Sie wollten den Autor degradieren. Sie wollten, dass ein
Buch
, dieses mühsam erkämpfte, transzendente Ding, ein
Text
sei, zufällig, unbestimmt und offenin seiner Bedeutung. Sie wollten den Leser zur Hauptsache machen. Weil
sie
Leser waren.
Wohingegen Madeleine mit dem Geniebegriff gar kein Problem hatte. Sie wünschte sich, dass ein Buch sie dorthin mitnahm, wohin sie selber nicht gelangen konnte. Sie fand, ein Autor solle beim Schreiben härter arbeiten, als sie es beim Lesen tat. Wenn es um Schriftstellerei und Literatur ging, hielt Madeleine eine Tugend hoch, die keine Achtung mehr genoss: Klarheit. In der Woche nachdem sie Eco gelesen hatten, lasen sie Auszüge aus Derridas
Die Schrift und die Differenz
. Noch eine Woche später kam Jonathan Cullers
Dekonstruktion
an die Reihe, und zum ersten Mal betrat Madeleine
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