Die Liebeshandlung
Schneeflockenmuster an. Sie trug wieder ihre Brille. Zum zweiten Mal hintereinander tauchte Leonard nicht auf. Madeleine fürchtete, er habe den Kurs geschmissen, aber das konnte er eigentlich nicht, dafür lief das Semester schon zu lange. Zipperstein fragte: «Hat jemand Mr. Bankhead gesehen? Ist er krank?» Niemand wusste etwas. Thurston kam mit einem Mädchen, Cassandra Hart, beide verschnieft und heroinblass. Er zog einen schwarzenFlair Pen heraus und schrieb auf Cassandras nackte Schulter: «Keine echte Haut».
Zipperstein war gut aufgelegt. Gerade war er von einer Konferenz in New York zurück, anders gekleidet als sonst. Während Madeleine ihn erzählen hörte, wie sein Vortrag an der New School gewesen war, fiel es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen. Semiotik war die Form, die Zippersteins Midlife-Crisis angenommen hatte. Dass er Semiotiker geworden war, erlaubte ihm, eine Lederjacke zu tragen, zu Douglas-Sirk-Retrospektiven nach Vancouver zu fliegen und all die sexy Freaks in seinen Kursen zu versammeln. Statt seine Frau zu verlassen, hatte Zipperstein sich vom Englisch-Fachbereich getrennt. Statt eines Sportwagens hatte er sich die Dekonstruktion zugelegt.
Jetzt saß er am Seminartisch und fing an zu sprechen:
«Ich hoffe, Sie haben für diese Woche die Ausgabe von
Semiotext(e)
gelesen. Zu Lyotard und als Hommage an Gertrude Stein möchte ich Folgendes vorgeben: Die Sache mit dem Wunsch ist die, dass es dort kein Dort gibt.»
Das war’s. Das war Zippersteins Vorgabe. Er saß vor ihnen, blinzelnd, wartete auf eine Entgegnung. Er schien alle Geduld der Welt zu haben.
Madeleine hatte wissen wollen, was Semiotik ist. Sie hatte wissen wollen, worum es bei dem ganzen Wirbel ging. Na schön, jetzt glaubte sie es zu wissen.
Aber dann, in der zehnten Woche und aus vollkommen extracurrikularen Gründen, bekam Semiotik plötzlich einen Sinn.
Es war an einem Freitagabend im April, kurz nach elf, als Madeleine im Bett saß und las. Der Text, den Zipperstein diesmal aufgegeben hatte, war von Roland Barthes,
Fragmente einer Sprache der Liebe
. Für ein Buch, in dem es angeblich umLiebe ging, sah es nicht sehr romantisch aus. Der Umschlag ein dunkles Schokoladenbraun, der Titel türkis. Es gab kein Foto des Autors, nur eine lückenhafte Biographie mit einer Liste seiner Werke.
Madeleine hatte das Buch im Schoß. Mit der rechten Hand naschte sie Erdnussbutter direkt aus dem Glas. Der Löffel schmiegte sich formvollendet in ihre obere Gaumenhöhle, sodass die Erdnussbutter cremig auf ihre Zunge schmolz.
Sie schlug die Einleitung auf und fing an zu lesen:
Die Notwendigkeit des vorliegenden Buches hängt mit der folgenden Überlegung zusammen: dass der Diskurs der Liebe heute von extremer Einsamkeit ist.
Draußen war die Temperatur, nach gleichbleibend frostiger Kälte im März, auf zweistellige Plusgrade geklettert. Das damit einhergehende Tauwetter löste eine alarmierende Schmelze aus; es tropfte von Dachrinnen, tropfte aus Rohren, die Bürgersteige waren matschig, die Straßen überflutet, ein Dauergeräusch bergab strömenden Wassers.
Madeleine ließ die flüssige Dunkelheit durch ihre geöffneten Fenster herein. Sie lutschte an dem Löffel und las weiter:
Was hier von der Erwartung, dem Gedenken, der Angst gesagt worden ist, ist immer nur bescheidene Ergänzung, dem Leser dargeboten, damit er sich ihrer bemächtigt, sie ergänzt, sich davon zunutze macht und sie anderen weiterreicht: um die Figur lassen die Spieler das «Ringlein» kreisen; manchmal hält man, in einer letzten Parenthese, den Ring noch einen Augenblicklang zurück, bevor man ihn weitergibt. (Das Buch wäre idealerweise eine Interessengemeinschaft: «Den Lesern – den Liebenden – Vereint.»)
Es lag nicht nur daran, dass Madeleine diese Art zu schreiben wunderbar gefiel. Genauso wenig lag es nur daran, dass die einleitenden Sätze von Barthes unmittelbar Sinn ergaben. Es lag auch nicht nur an der Erleichterung darüber, endlich ein Buch für sich entdeckt zu haben, über das sie eventuell ihre Seminararbeit schreiben konnte. Was Madeleine kerzengerade im Bett aufsitzen ließ, hatte eher mit dem tieferen Grund zu tun, weshalb sie überhaupt Bücher las und Bücher immer geliebt hatte. Hier fand sie ein Zeichen dafür, dass sie nicht allein war. Hier wurde etwas ausgedrückt, was sie bisher nur stumm empfunden hatte. So, wie sie mit Jogginghose, zurückgebundenen Haaren und verschmierter Brille an einem
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