Die Liebeshandlung
hatte eine ungeheure Wirkung. Er verschwand in der Versenkung, um sich die Wunden zu lecken. Sein Interesse am Quietismus war schon vorher da gewesen, und so gab es nach dieser neuen Schlappe nichts, was ihn davon abhalten konnte, sich vollends in sich selbst zurückzuziehen.
Mitchell hatte ursprünglich Anglistik als Hauptfach studieren wollen, wie Madeleine. Aber nachdem er für einen Psychologie-Kurs
Die Vielfalt religiöser Erfahrung
gelesen hatte, war er umgeschwenkt. Er hatte ein klinisches, nüchternes Buch erwartet, aber das war es nicht. William James schrieb über «Fälle» aller Art, Frauen und Männer, die er kannte oder mit denen er korrespondiert hatte, Menschen, die an Melancholie, an Nervenkrankheiten, an Verdauungsbeschwerden litten, Menschen, die sich nach Selbstmord gesehnt, dieStimmen gehört und über Nacht ihr Leben geändert hatten. James berichtete von ihren Zeugnissen ohne den geringsten Spott. Tatsächlich war das, was diese Geschichten so bemerkenswert machte, die Intelligenz derer, von denen sie stammten. Offenbar in aller Aufrichtigkeit beschrieben diese Menschen detailliert, wie sie den Lebenswillen verloren hatten, wie sie krank und bettlägerig geworden und vereinsamt waren, bis ihnen plötzlich ein «neuer Gedanke» kam, der Gedanke an ihren wahren Platz im Universum, woraufhin ihr ganzes Leid ein Ende fand. Neben diesen Zeugnissen analysierte James die religiöse Erfahrung berühmter Männer und Frauen wie Walt Whitman, John Bunyan, Leo Tolstoi, der heiligen Teresa von Avila, George Fox, John Wesley und sogar Kant. Es gab keinen ersichtlichen Bekehrungsgrund. Aber die Wirkung auf Mitchell war derart, dass er sich der zentralen Rolle der Religion in der menschlichen Geschichte bewusst wurde und, noch wichtiger, der Tatsache, dass religiöse Gefühle nicht etwa beim In-die-Kirche-Gehen oder Bibellesen entstanden, sondern den persönlichsten inneren Erfahrungen entsprangen, sei es großer Freude oder unerhörtem Schmerz.
Mitchell kehrte immer wieder zu einem Absatz über das neurotische Temperament zurück, den er unterstrichen hatte, weil dort etwas stand, was seine eigene Persönlichkeit zu beschreiben schien und ihm zugleich half, sich besser damit zu fühlen. Da hieß es:
Kaum einer von uns ist nicht in irgendeiner Weise schwach oder sogar krank; und eben unsere Schwächen helfen uns auf unerwartete Weise. In dem […] Temperament besitzen wir die Emotionalität, welche das sine qua non der moralischen Wahrnehmung ist; inihm besitzen wir die Heftigkeit und die Neigung zur Emphase, die das Wesen der praktischen moralischen Kraft sind; und wir besitzen in ihm die Liebe zur Metaphysik und zur Mystik, die das Interesse eines Menschen über die Oberfläche der sinnlich wahrnehmbaren Welt hinaustragen. Was ist dann natürlicher, als daß dieses Temperament einen in Regionen der religiösen Wahrheit und Gegenden des Universums hineinführt, die jener robuste Philistertyp von Nervensystem, das ständig seinen Bizeps zu fühlen anbietet, sich auf die Brust schlägt und dem Himmel dankt, daß es keine einzige morbide Faser in seiner Zusammensetzung enthält, sicherlich für alle Zeiten vor seinem selbstzufriedenen Besitzer verbergen würde?
Wenn es so etwas wie Inspiration aus einem höheren Reich wirklich gäbe, könnte es gut sein, daß das neurotische Temperament die Hauptbedingung für die erforderliche Rezeptivität darstellen würde.
Mitchells erster Kurs in Religionswissenschaft (derjenige, an dem auch Bankhead teilgenommen hatte) war eine vollauf im Trend liegende Einführung in östliche Religionen. Als Nächstes belegte er ein Seminar über den Islam. Von da aus wagte Mitchell sich an härteren Tobak – einen Kurs über thomistische Ethik, ein Seminar über den deutschen Pietismus –, bevor er, noch höher aufsteigend, im letzten Semester einen Kurs mit dem Titel «Religion und Entfremdung in der Kultur des 20. Jahrhunderts» besuchte. Bei der ersten Veranstaltung musterte der Professor, ein ernst aussehender Mann namens Hermann Richter, misstrauisch die etwa vierzig im Raum zusammengepferchten Studenten. Mit erhobenem Kinn warnte er in strengem Ton: «Das hier istein rigoroser, umfassender, analytischer Kurs über religiöses Denken im zwanzigsten Jahrhundert. Wenn irgendjemand glaubt, mit ein bisschen Entfremdung wäre es getan, sollte er es sich anders überlegen.»
Finsteren Blickes teilte er den Seminarplan aus. Der enthielt Max Webers
Die
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