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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus,
außerdem
Auguste Comte und der Positivismus
, Tillichs
Der Mut zum Sein
, Heideggers
Sein und Zeit
sowie
Die Tragödie des atheistischen Humanismus
von Henri de Lubac. Ringsum wurden die Gesichter immer länger. Viele hatten auf
Der Fremde
gehofft, den sie schon aus der Highschool kannten. In der nächsten Veranstaltung saßen deutlich weniger.
    Mitchell hatte noch nie einen Professor wie Richter gehabt. Richter kleidete sich wie ein Banker. Er trug graue Kreidestreifen-Anzüge, gediegene Krawatten, Button-down-Hemden und polierte Budapester. Ihn kennzeichneten die beruhigenden Attribute von Mitchells Vater   – Gewissenhaftigkeit, Nüchternheit, Männlichkeit   –, und doch führte er ein Leben unväterlicher intellektueller Kultivierung. Jeden Morgen bekam er an der Fakultät die
Frankfurter Allgemeine
ins Fach gelegt. Er zitierte, auf Französisch, die Ausrufe der Vérendrye-Brüder beim Anblick der Badlands von Dakota. Er schien weltlicher als die meisten Professoren und weniger ideologisch vorprogrammiert. Seine Stimme war tief, Marke Kissinger, nur ohne den Akzent. Es war unmöglich, ihn sich als kleinen Jungen vorzustellen.
    Zweimal in der Woche trafen sie sich mit Richter und forschten entschlossen nach den Ursachen, weshalb der christliche Glaube um das Jahr 1848 gestorben war. Die Tatsache, dass viele glaubten, er sei noch lebendig, ja überhaupt nie krank gewesen, wurde unumwunden abgetan. Richterwollte keinen Pfusch. Wer keine Antwort auf die Einwände eines Schopenhauer hatte, musste sich dessen Pessimismus anschließen. Aber das war keineswegs die einzige Option. Richter bestand darauf, blinder Nihilismus sei intellektuell ebenso unsauber wie blinder Glaube. Es sei möglich, den Korpus des Christentums genau zu untersuchen, ihm auf die Brust zu klopfen und Atem in den Mund zu blasen, um zu sehen, ob das Herz wieder anfing zu schlagen.
I’m not dead. I’m only sleeping.
Mit geradem Rücken, nie sitzend, die grauen Barthaare sorgfältig rasiert, aber mit hoffnungsvollen Zeichen an sich, einer Distel im Knopfloch oder, aus seinem Überzieher ragend, einem eingewickelten Geschenk für seine Tochter, stellte Richter den Studenten Fragen und lauschte ihren Antworten, als könnte es womöglich hier und jetzt, in der Richardson Hall, Raum 112, geschehen: dass Dee Michaels, die in einer Campus-Produktion von
Bus Stop
den Marilyn-Monroe-Part spielte, eine Strickleiter übers Nichts warf. Mitchell beobachtete Richters Gründlichkeit, sein Bedauern beim Aufdecken von Irrtümern, seine ungebrochene Begeisterung darüber, dass er bei der Entwirrung jedes einzelnen der etwa zwanzig um den Seminartisch gescharten Köpfe den Vorsitz führte. Dass er die Gehirne dieser Kids funktionstüchtig machte, auch jetzt noch, kurz vor Toresschluss.
    Ob Richter an Gott glaubte, blieb unklar. Er war kein christlicher Apologet. Mitchell suchte Hinweise auf Richters Präferenzen. Aber es gab keine. Richter sezierte jeden Denker mit derselben Strenge. Er geizte mit Zustimmung und sparte nicht mit Kritik.
    Am Ende des Semesters gab es eine Abschlussprüfung in Form einer Hausarbeit. Richter teilte ein einziges Blatt Papier mit zehn Fragen aus. Jedem stand es frei, in Büchern nachzuschlagen. Es gab keine Möglichkeit zu täuschen. DieAntworten auf solche Fragen waren nirgendwo zu finden. Niemand hatte sie bisher gestellt.
    Mitchell konnte sich an keinerlei Druck bei der Erfüllung dieser Aufgabe erinnern. Er arbeitete hart, aber mühelos. Er saß an dem ovalen Esstisch, den er zum Schreiben benutzte, umgeben von einem Haufen Büchern und Notizen. Larry backte in der Küche Bananenbrot. Gelegentlich ging Mitchell hinüber und aß ein Stück. Dann kehrte er zurück und machte an dem Punkt, wo er aufgehört hatte, weiter. Beim Schreiben fühlte er sich zum ersten Mal, als wäre er kein Schüler mehr. Er beantwortete die Fragen nicht, um eine Prüfungsnote zu bekommen. Er versuchte das Dilemma, in dem er sich befand, zu diagnostizieren. Und nicht nur
sein
Dilemma, sondern auch das aller anderen, die er kannte. Es war ein seltsames Gefühl. Er schrieb in einem fort die Namen Heidegger und Tillich, aber er dachte über sich selbst und all seine Freunde nach. Jeder, den er kannte, war überzeugt, Religion sei eine Mogelpackung und Gott eine Fiktion. Aber das, was seine Freunde als Religionsersatz heranzogen, schien auch nicht gerade beeindruckend. Niemand wusste eine Lösung

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