Die Liebeshandlung
Meems abgezogen», sagte Olivia und pinselte dabei Lack. «Aber ich hab ihr geantwortet, dass das unmöglich stimmen kann.»
«Ich will nicht darüber reden», sagte Madeleine.
«Na dann. Ist mir ja auch egal», sagte Olivia. «Aber eins wollen Pookie und ich doch gern wissen.»
«Ich muss kurz unter die Dusche.»
«Es ist für dich», sagte Abby und hielt ihr das Telefon hin.
Madeleine hatte keine Lust, mit irgendjemandem zu reden, aber es war besser, als noch mehr Fragen abzuwehren. Sie nahm den Hörer und meldete sich.
«Madeleine?» Es war eine männliche Stimme, unbekannt.
«Ja.»
«Hier ist Ken. Auerbach.» Als Madeleine nicht reagierte, sagte der Anrufer: «Ich bin ein Freund von Leonard.»
«Oh», sagte Madeleine. «Hallo.»
«Entschuldige, dass ich am Tag der Abschlussfeier anrufe. Aber ich fahre heute weg, und ich dachte, ich sollte das mit dem Anruf noch vorher tun.» Eine Pause entstand, in der Madeleine versuchte, sich auf die Realität des Augenblicks einzustellen, aber bevor sie so weit war, sagte Auerbach: «Leonard ist im Krankenhaus.»
Kaum hatte er diese Nachricht verkündet, fügte er hinzu: «Mach dir keine Sorgen. Er ist nicht verletzt. Aber er ist im Krankenhaus, und ich dachte, du solltest das wissen. Falls du es nicht schon weißt. Vielleicht wusstest du es ja.»
«Nein, wusste ich nicht», sagte Madeleine in einem Ton, der ihr ruhig zu klingen schien. Sie behielt ihn bei, als sie sagte: «Warte mal kurz.» Den Hörer an die Brust gepresst, nahm sie den Apparat, der eine extralange Schnur hatte, und trug ihn aus dem Wohnzimmer in ihr eigenes, wohin die Schnur gerade reichte. Sie schloss die Tür und hob den Hörer wieder ans Ohr. Sie fürchtete, dass beim ersten Ton, den sie herausbrächte, ihre Stimme umschlagen würde.
«Was ist los? Geht es ihm nicht gut?»
«Doch», versicherte Auerbach. «Körperlich geht es ihm gut. Ich hatte schon Angst, dass du ausrastest, wenn ich anrufe, aber – na ja, hm – er ist nicht verletzt oder so was.»
«Was hat er dann?»
«Also, zuerst war er ein wenig manisch. Aber jetzt ist er wirklich depressiv. So wie … klinisch eben.»
In den nächsten Minuten, während eingerahmt von ihrem Fenster Regenwolken über die Kuppel des State Capitol hinwegzogen, erzählte Auerbach, was passiert war.
Angefangen hatte es mit Leonards Nicht-schlafen-Können. In Seminaren klagte er darüber, wie erschöpft er sei. Zunächst fand das nicht viel Beachtung. Sein Erschöpftsein machte sein Wesen ja weitgehend aus. Aber vorher war es eine Folge der gewöhnlichen Anforderungen des Tages gewesen, der Notwendigkeit, morgens aufzustehen, sich anzuziehen, es zum Campus zu schaffen. Es hatte nicht daran gelegen, dass er nicht schlafen konnte, sondern am Wachsein, das ihm unerträglich war. Im Gegensatz dazu hatte Leonards jetzige Erschöpfung mit der Nacht zu tun. Er sagte, er sei zu aufgedreht, um ins Bett zu gehen, und fing an, bis drei oder vier Uhr morgens aufzubleiben. Wenn er sich dann zwang, das Licht zu löschen und sich hinzulegen, raste sein Herz, und er brach in Schweiß aus. Er versuchte zu lesen, aber seine Gedanken rasten weiter, und bald lief er in seiner Wohnung auf und ab.
Nach einer Woche in diesem Zustand war Leonard zum Gesundheitsdienst gegangen, wo ein Arzt, der es gewohnt war, dass kurz vor Semesterende stressgeplagte Studenten zu ihm kamen, ihm Schlaftabletten verschrieb und empfahl, keinen Kaffee mehr zu trinken. Als die Tabletten nicht halfen, verschrieb ihm der Arzt ein leichtes Beruhigungsmittel unddann ein stärkeres, aber auch das brachte Leonard bestenfalls zwei oder drei Stunden flachen, traumlosen, unerquicklichen Schlaf pro Nacht.
Genau um diese Zeit, sagte Auerbach, hörte Leonard auf, sein Lithium zu nehmen. Es war nicht klar, ob Leonard es vorsätzlich abgesetzt oder einfach nur vergessen hatte. Aber schon bald ging das mit den Anrufen los. Er rief jeden an. Redete eine Viertel- oder halbe Stunde, eine ganze oder zwei. Zunächst waren die Gespräche mit ihm kurzweilig wie immer. Man freute sich, von ihm zu hören. Zwei- oder dreimal am Tag telefonierte er mit seinen Freunden. Dann fünf- oder sechsmal. Dann zehnmal. Dann zwölf-. Er rief von seiner Wohnung aus an. Von sämtlichen Münztelefonen auf dem Campus, deren Standorte er sich gemerkt hatte. Leonard kannte ein Telefon im zweiten Untergeschoss des Physiklabors und eine gemütliche Telefonzelle im Verwaltungsgebäude. Er kannte einen kaputten Apparat an der Thayer
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