Die Liebeshandlung
Street, der die Münzen wieder ausspuckte. Er kannte unbewachte Telefone im Philosophischen Institut. Von jedem einzelnen dieser Apparate rief Leonard an, um seinen Zuhörern zu sagen, wie erschöpft er sei, er könne nicht schlafen, er könne nicht schlafen, wie erschöpft er sei. Das Einzige, was er offenbar vermochte, war, am Telefon zu reden. Sobald die Sonne aufging, telefonierte er mit seinen Frühaufsteher-Freunden. Da er die ganze Nacht durchwacht hatte, wollte er mit Menschen reden, die noch nicht in Gesprächslaune waren. Danach versuchte er es bei anderen, die er gut oder nur sehr flüchtig kannte, Studenten, Fachbereichssekretärinnen, seinem Dermatologen, seinem akademischen Betreuer. Wenn es an der Ostküste zu spät wurde, um wen auch immer anzurufen, ging Leonard sein Telefonbuch durch und suchte die Nummern von Freundenan der Westküste heraus. Und wenn es zu spät wurde, um in Portland oder San Francisco anzurufen, sah er den grauenvollen drei oder vier Stunden entgegen, die er allein mit sich in seiner Wohnung verbringen musste, allein mit seinem sich zersetzenden Verstand.
Das war der Ausdruck, den Auerbach gebrauchte, als er Madeleine davon erzählte. «Sich zersetzender Verstand.» Madeleine hörte zu, versuchte das Bild, das Auerbach skizzierte, in Einklang mit dem Leonard zu bringen, den sie kannte und dessen Verstand alles andere als unzurechnungsfähig war.
«Was soll das heißen?», fragte Madeleine. «Willst du sagen, Leonard wird verrückt?»
«Das habe ich nicht gesagt», erwiderte Auerbach.
«Und was meinst du mit ‹sich zersetzendem Verstand›?»
«So hat er es beschrieben. So, sagt er, fühlt es sich an.»
Als sein Verstand sich zu zersetzen begann, versuchte Leonard ihn zusammenzuhalten, indem er in einen Plastikhörer sprach, um einen anderen Menschen zu erreichen und sich mit ihm auszutauschen, ja um ihm eine genaue Beschreibung seiner Verzweiflung, seiner physischen Symptome, seiner hypochondrischen Einbildungen zu geben. Er rief an, um Leute nach ihren Leberflecken zu befragen. Ob sie schon mal einen gehabt hätten, der verdächtig aussah? Der geblutet oder sich verändert hatte? Oder ein rotes Dingsda an ihrem Penisschaft? Konnte das Herpes sein? Wie sah Herpes genau aus? Woran erkannte man den Unterschied zwischen Herpeskrusten und Schanker? Auerbach sagte, dass Leonard die Anstandsregeln von Männerfreundschaften strapazierte, indem er seine männlichen Freunde anrief und sich nach ihren Erektionen erkundigte. War es ihnen schon passiert, dass sie keinen hochgekriegt hatten?Und wenn ja, unter welchen Umständen? Leonard fing an, seine Erektionen «Gumbys» zu nennen. Das waren Erektionen, die sich bogen, die so biegsam waren wie die Knetmassenfigur aus alten Kindertagen. «Manchmal kriege ich einen totalen Gumby», sagte er. Er fürchtete, eine Radtour durch Oregon, die er in einem Sommer unternommen hatte, habe seiner Prostata geschadet. Er ging in die Bibliothek und fand eine Studie zur erektilen Dysfunktion bei Tour-de-France-Athleten. Weil Leonard so brillant und unvergleichlich komisch war, hatte er in seinem Bekanntenkreis einen riesigen Vorrat an Wohlwollen und Erinnerungen an großartige Zeiten mit ihm angelegt, und jetzt begann er, in seinen unzähligen Anrufen davon zu zehren, ein ums andere Mal, während die Angerufenen darauf warteten, dass er aufhörte mit seiner Jammerei, und ihn durch aufmunterndes Zureden aus seiner Depression herausreißen wollten, und es dauerte lange, bis er seinen Vorrat, gemocht und bewundert zu werden, erschöpft hatte.
Leonards düstere Stimmungen waren immer auch Teil seiner Anziehungskraft gewesen. Es tat gut, ihn seine Schwächen, seine Bedenken gegenüber dem amerikanischen Erfolgsrezept aufzählen zu hören. So viele am College hatten hochgezüchtete Ambitionen und steroidale Egos, waren klug, aber konkurrenzorientiert, fleißig, aber rücksichtslos, glänzend, aber stumpf, sodass jeder sich gezwungen fühlte, Optimismus auszustrahlen – wir haben’s drauf, und das Leben brummt –, obwohl alle im Stillen wussten, dass ihnen in Wirklichkeit ganz anders zumute war. Sie zweifelten an sich und hatten Angst vor der Zukunft. Und gerade weil sie so eingeschüchtert und beunruhigt waren, halfen ihnen die Gespräche mit Leonard, bei dem das alles zehnmal schlimmer ausfiel, sich weniger schlecht und allein zu fühlen.Leonards Anrufe waren wie Telefontherapie. Und das Beste, ihm ging es mit Abstand schlechter als jedem anderen!
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