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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Er war Dr.   Freud und Dr.   Doom, Beichtvater und bußfertiges Beichtkind, Arzt und Patient. Er zog keine Schau ab. Er war nicht falsch. Was er sagte, war ehrlich, und er hörte anteilnehmend zu. In den besten Momenten waren seine Telefongespräche gewissermaßen Kunst und eine Art von Seelsorge.
    Trotzdem, sagte Auerbach, hatte sich Leonards Pessimismus zu dieser Zeit verändert. Er vertiefte sich, wurde reiner. Er verlor sein komisches Ornat, das Nummernartige, Parodistische, und wurde zu unvermischter, tödlicher, schierer Verzweiflung. Egal, was Leonard, der immer «deprimiert» gewesen war, vorher gehabt haben mochte, es war keine Depression.
Das
war eine Depression. Dieser monotone Monolog eines ungewaschenen, mitten im Zimmer auf dem Rücken liegenden Kerls. Diese unmodulierte Rezitation der Misserfolge seines jungen Lebens, Misserfolge, die ihn in seiner Vorstellung bereits jetzt zu einer schwindsüchtig zerfallenden Existenz verdammten. «Wo ist Leonard?», fragte er ständig am Telefon. Wo war der Tausendsassa, der mit der linken Hand einen zwanzig Seiten langen Aufsatz über Spinoza schreiben konnte, während er mit der rechten Schach spielte? Wo war der professorale Leonard, Verkünder obskurer Thesen über die Geschichte der Typographie in Flandern versus Wallonien, Vortragender elaborierter Abhandlungen über die literarischen Verdienste von sechzehn ghanaischen, kenianischen und ivorischen Romanciers, deren Werke in einer
Out of Africa
betitelten Taschenbuchreihe aus den sechziger Jahren erschienen waren, die Leonard einst bei Strand aus den Regalen gezogen, zu fünfzig Cent das Stück erworben und dann Band für Band von vorn bis hinten durchgelesenhatte? «Wo ist Leonard?», fragte Leonard. Leonard wusste es nicht.
    Allmählich dämmerte Leonards Freunden, dass es vollkommen gleichgültig war, wen Leonard anrief. Er vergaß, wer am anderen Ende der Leitung war, und sobald es jemandem gelang aufzulegen, rief er einen anderen an und fuhr genau da, wo er aufgehört hatte, fort. Und jeder war
beschäftigt
, hatte anderes zu tun. Also gingen seine Freunde langsam dazu über, Entschuldigungen zu erfinden, wenn Leonard anrief. Sie sagten, sie müssten zu einem Kurs oder zu einer Besprechung mit einem Professor. Sie reduzierten die Redezeit auf ein Minimum, und nach einer Weile gingen sie gar nicht mehr ans Telefon. Auerbach selbst hatte es so gemacht, und jetzt fühlte er sich schuldig, weshalb er Madeleine auch angerufen hatte. «Wir wussten, dass Leonard in schlechter Verfassung war», sagte er, «aber dass sie
so
schlecht war, wussten wir nicht.»
    Irgendwann kam dann der Tag, an dem Auerbachs Telefon gegen fünf Uhr nachmittags klingelte. Weil er fürchtete, es könnte Leonard sein, nahm er nicht ab. Aber das Telefon hörte und hörte nicht auf zu klingeln, bis Auerbach es schließlich nicht mehr aushielt und dranging.
    «Ken?», sagte Leonard mit bebender Stimme. «Ich bekomme meine Scheine nicht, Ken. Ich kann nicht graduieren.»
    «Wer sagt das?»
    «Professor Nalbandian rief eben an. Er sagt, es sei zu spät, um alles aufzuholen, was ich verpasst habe. Also gibt er mir ein ‹unvollständig›.»
    Für Auerbach war das keine Überraschung. Aber die Verletzlichkeit in Leonards Stimme, der in ihr mitschwingende Schrei des im Wald verirrten Kindes, löste bei Auerbach dasBedürfnis aus, etwas Tröstendes zu sagen. «Nimm’s nicht so tragisch. Er lässt dich doch nicht durchfallen.»
    «Das ist nicht der
Punkt
, Ken», sagte Leonard gekränkt. «Der Punkt ist, dass er einer meiner Professoren ist, von denen ich mir ein Empfehlungsschreiben erhofft hatte. Ich hab alles vermasselt, Ken. Ich kann nicht fristgerecht mit den anderen zusammen graduieren. Und wenn ich den Abschluss nicht habe, streichen sie mir das Stipendium für Pilgrim Lake. Ich habe kein Geld, Ken. Meine Eltern werden mich nicht unterstützen. Ich weiß nicht, wie ich’s schaffen soll. Ich bin erst zweiundzwanzig und habe mein Leben vermasselt!»
    Auerbach versuchte vernünftig mit Leonard zu reden, ihn zu beruhigen, aber egal, welche Argumente er anführte, Leonard blieb auf das Entsetzliche seiner Lage fixiert. Immer weiter klagte er, dass er kein Geld habe, dass er anders als die meisten Kids an der Brown von seinen Eltern nicht unterstützt werde, wie benachteiligt er sein ganzes Leben lang gewesen sei und dass auch das zu seinem labilen emotionalen Zustand geführt habe. Sie drehten sich im Kreis, über eine Stunde lang, wobei

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