Die Liebeshandlung
hatte den zusätzlichen Nutzen, sie selbst von dem zu überzeugen, was sie sagte.
Abby machte immer noch ein mitleidiges Gesicht, blickte kuhäugig, neigte den Kopf zur Seite. Sie hatte Smoothie an der Oberlippe. «Wir haben uns einfach Sorgen um dich gemacht, Mad», sagte sie. «Wir hatten Angst, du würdest das als Vorwand benutzen, um dich wieder mit Leonard zusammenzutun.»
«Ach, dann habt ihr mich also beschützt.»
«Du brauchst nicht abfällig zu werden», sagte Olivia.
«Ich fasse es nicht, dass ich mein letztes Collegejahr darauf verschwendet habe, ausgerechnet mit euch beiden zusammenzuleben.»
«Ach, als wärst du für uns die reine Freude gewesen!», sagte Olivia mit grimmigem Triumph. «Du und deine
Sprache der Liebe
. Verschone mich! Wie ging der noch, dieser Satz, den du so gern zitierst? Dass es Leute gibt, die sich nie verlieben würden, wenn sie nicht von der Liebe würden sprechen hören? Und was machst du? Nichts als darüber lesen.»
«Ich glaube, du musst zugeben, dass es ziemlich nett vonuns war, dich zu fragen, ob du bei uns einziehen willst», sagte Abby, die sich nun den Smoothie von der Lippe leckte. «Ich meine, wir haben doch die Wohnung hier gefunden und die Kaution hinterlegt und den ganzen Kram.»
«Ich wünschte, ihr hättet mich nie gefragt», sagte Madeleine. «Dann hätte ich vielleicht das Glück gehabt, mit jemandem zusammenzuwohnen, dem ich vertrauen kann.»
«Lass uns gehen», sagte Abby, indem sie sich mit einem Ausdruck, der Endgültigkeit verhieß, von Madeleine abwandte. «Wir müssen zusehen, dass wir den Abmarsch nicht verpassen.»
«Meine Nägel sind noch nicht trocken», sagte Olivia.
«Komm. Wir sind spät dran.»
Madeleine hatte genug gehört. Sie drehte sich um, ging in ihr Zimmer und schloss die Tür. Als sie sich sicher war, dass Abby und Olivia die Wohnung verlassen hatten, suchte sie ihre Graduierungsklamotten zusammen – die Kappe und Robe, die Quaste – und begab sich zur Eingangshalle hinunter. Es war 9.32 Uhr. Um den Campus zu erreichen, brauchte sie zwölf Minuten.
Der schnellste Weg den Berg hoch – und einer, auf dem keine Gefahr bestand, ihre Mitbewohnerinnen einzuholen – war der über die Bowen Street. Die Bowen Street hatte allerdings ihre eigenen Tücken. Dort wohnte Mitchell, und Madeleine war nicht erpicht darauf, ihm nochmals zu begegnen. Vorsichtig bog sie um die Ecke, und da er nicht zu sehen war, hastete sie an seinem Haus vorbei und begann den Hang hinaufzugehen.
Der Weg war glitschig vom Regen. Als sie den Aufstieg geschafft hatte, waren ihre Slipper voller Matsch. Ihr Kopf fing wieder an zu pochen, und während sie weiterhastete, stieg ein Schwall Körpergeruch aus dem Kragen ihres Kleidesauf. Zum ersten Mal inspizierte sie den Fleck. Es hätte alles Mögliche sein können. Trotzdem blieb sie stehen, zog sich die Robe über den Kopf und setzte ihren Weg fort.
Sie stellte sich Leonard verbarrikadiert in seiner Wohnung vor, mit Wachleuten, die seine Tür einschlugen, und eine angstvolle Zärtlichkeit erfasste sie.
Aber im Gegenzug war da diese Auftriebskraft, ein Ballon, der trotz der akuten Notlage in ihr nach oben drängte …
An der Congdon Street legte sie an Tempo zu. Ein paar Ecken weiter sah sie die Menge. Polizisten hatten den Verkehr lahmgelegt, und Menschen in Regenmänteln bevölkerten die Prospect und die College Street, sammelten sich vor dem Kunstgebäude und der Bibliothek. Der Wind frischte wieder auf, die Kronen der Ulmen schwankten unter einem dunklen Himmel.
Als sie am Carrie Tower vorbeikam, hörte sie eine Blaskapelle Instrumente stimmen. Master- und Medizinstudenten reihten sich an der Waterman Street auf, während Beamte in zeremonieller Kleidung die Aufstellung überwachten. Madeleine wollte durch den Faunce House Arch auf den Rasenplatz gelangen, aber die Menschenreihe versperrte ihr den Weg. Statt zu warten, ging sie am Faunce House entlang und die Treppe der Poststelle hinunter, in der Absicht, den unterirdischen Durchgang zu benutzen. Beim Durchqueren des Raums fiel ihr etwas ein. Sie schaute noch einmal auf ihre Armbanduhr. Es war 9.41 Uhr. Ihr blieben noch vier Minuten.
Madeleines Briefkasten befand sich an der Frontseite ganz unten. Um die Zahlenkombination einzustellen, ging sie auf ein Knie, wodurch sie sich hoffnungsvoll und zugleich verletzlich fühlte. Die Messingtür öffnete sich vor einem vom Lauf der Zeiten dunkel gewordenen Fach. Darin lag eineinziger Umschlag. Ruhig (denn
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