Die Liebeshandlung
Collegezeit war ein dauerndes Sichaufstellen und endete mit diesem letzten. Mitchell und Larry schoben sich langsam aus dem belaubten Halbdunkel des Wriston Quad. Der Boden war noch kühl, unbesonnt. Irgendein Witzbold war auf die Statue des Marc Aurel geklettert und hatte dem Stoiker einen Doktorhut über den Kopf gestülpt. Seinem Pferd hatte man eine «82» auf die stählerne Flanke gemalt. Nachdem sie die Stufen neben dem Leeds Theatre hinaufgestiegen waren, ging es weiter an der Sayles und der Richardson Hall vorbei bis zum großen Rasenplatz. Der Himmel sah wie ein Gemäldedetail von El Greco aus. Jemandes Programmblatt wehte vorbei.
Larry bot Mitchell den Jointstummel an, aber der schüttelte den Kopf. «Ich bin stoned», sagte er.
«Ich auch.»
Mit kleinen Sträflingskolonnen-Schritten näherten sie sich der überdachten Bühne an der University Hall vor einem Meer weißer Klappstühle. Am oberen Ende des Wegeskam der Festzug ins Stocken. Eine Welle von Müdigkeit erinnerte Mitchell daran, warum er sich morgens ungern bekiffte. Nach dem anfänglichen Energieschub wurde der Tag zu einem Felsbrocken, den man bergauf vor sich herwälzte. Auf der Reise würde er sich das Haschischrauchen abgewöhnen. Er musste sein Leben in Ordnung bringen.
Der Festzug setzte sich wieder in Bewegung. Durch die Ulmen, in der Ferne, erhaschte Mitchell einen Blick auf die Skyline der Stadt, und dann tauchten direkt vor ihm die Van Wickle Gates auf; gemeinsam mit tausend anderen seines Abschlussjahrgangs wurde er hindurchgetragen.
Einige machten obligatorische Johlgeräusche, warfen ihre Kappen in die Luft. Die Menge draußen stand dicht gedrängt, lechzte nach ihren Kindern. Aus der Masse der Gesichter mittleren Alters stachen die von Mitchells eigenen Eltern mit atemberaubender Klarheit hervor. Deanie, in einem blauen Blazer und Trenchcoat der Marke London Fog, strahlte beim Anblick seines jüngsten Sohnes, als hätte er vergessen, dass er Mitchell nie an der Ostküste, unter dem schlechten Einfluss der Liberalen, hatte studieren lassen wollen. Lillian winkte nach Art kleinwüchsiger Leute, die Aufmerksamkeit erregen wollen, mit beiden Händen. Unter dem verfremdenden Einfluss des Marihuanas, ganz zu schweigen von vier Jahren am College, fand Mitchell das stillose Schirmband, das seine Mutter trug, und überhaupt die Geschmacklosigkeit seiner Eltern deprimierend. Aber etwas geschah mit ihm. Das Tor tat schon seine Wirkung, denn als er die Hand hob, um seinen Eltern zurückzuwinken, fühlte er sich, als wäre er wieder zehn Jahre alt, brach beinahe in Tränen aus, erstickt von Gefühlen für diese beiden Menschen, die, wie mythologische Gestalten, sein ganzes Leben lang die Fähigkeit besessen hatten, im Hintergrund zu verschwinden,sich in Stein oder Holz zu verwandeln und nur in Schlüsselmomenten wie diesem zum Leben zu erwachen, um Zeugen seiner Heldenfahrt zu sein. Lillian hatte einen Fotoapparat dabei. Sie machte Bilder. Darum gab es für Mitchell keinen Grund zur Sorge.
Larry und er strudelten weiter an der jubelnden Menge vorbei und das Gefälle der College Street hinunter. Mitchell hielt Ausschau nach den Hannas, sah sie aber nicht. Auch Madeleine war nicht zu sehen.
Am Fuß des Gefälles verlor die Prozession ihren Schwung, und der Abschlussjahrgang 1982 trieb an die Bordsteinkante, wurde selbst zum Publikum.
Mitchell nahm seine Kappe ab und wischte sich die Stirn. Ihm war nicht besonders feierlich zumute. Das Collegestudium war einfach gewesen. Dass die Graduierung eine Art Vollendung sein sollte, erschien ihm lächerlich. Aber er war auf seine Kosten gekommen, und zwar gründlich, und im Augenblick schwirrte ihm ehrfurchtsvoll der Kopf, also stand er da und applaudierte seinen Jahrgangsgefährten, bemüht, so gut er konnte in den Jubel des Tages einzustimmen.
Er dachte an nichts Religiöses, murmelte auch nicht das Jesusgebet, als er Professor Richter den Berg hinunter auf sich zumarschieren sah. Es war der Zug der Lehrkörper – Professoren und wissenschaftliche Assistenten im vollen akademischen Ornat, die kapuzenartigen Doktorschärpen gemäß den Farben ihrer Disziplin in Samt gefasst und mit dem Satin ihrer jeweiligen Alma Mater ausgekleidet, Purpurn für Harvard, Grün für Dartmouth, Hellblau für Tufts.
Es überraschte Mitchell, dass Professor Richter sich an einem so albernen Gepränge beteiligte. Er hätte zu Hause Heidegger lesen können, aber stattdessen war er hier, verschwendete seine Zeit
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