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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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ein harmloses Vergnügen, ein Zeitvertreib, eine Erlösung, die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse wie essen oder trinken oder der Toilettengang. Aber eine Frau wie Agathe würde von dieser Vorstellung mit dunkler, brennender Scham erfüllt und sofort zurückschrecken wie eine Schnecke vor dem Salz. Und so hatte ihr Verstand sich, aus Güte und Freundlichkeit und um sie vor den Qualen des Wahnsinns zu schützen, mit einer anderen, genauso unmöglichen Vorstellung angefreundet, nämlich dass Hektor die Liebe ihres Lebens sei.
    Dabei war es gar nicht so unglaublich. Jeder von uns denkt sich Geschichten aus, um die Realität erträglich zu machen.Es beginnt mit dem seltsamen Prozess in unserem Hirn, der die Welt auf die Füße stellt, wo unsere Augen sie doch, wie jedermann weiß, auf dem Kopf stehen sehen, und macht nicht halt vor dem charmanten Irrglauben, am Ende werde «alles gut werden»; es geht vom Phantom Hoffnung, das sich vor Lotteriekiosken herumtreibt, bis hin zu der hartnäckigen Überzeugung, dass unser Leben in Ordnung wäre, wäre unser Vater nur ein bisschen netter zu uns gewesen oder hätten wir für jene Prüfung ein bisschen mehr gelernt oder hätten wir bei jenem Vorstellungsgespräch nur eine andere Krawatte getragen. Alle tun es.

 
    ALS AGATHE an jenem Morgen die Wohnung in der Kanalstraße verließ – sie war bereits über eine Stunde zu spät – und mit steifen Knien durch den Schnee zur Haltestelle in der Gießereigasse watschelte, wusste sie, dass sie Hektor liebte. Sie wusste es. Sie wusste es so, wie sie ihren Namen und ihre Schuhgröße wusste, wie sie Dot auf der Landkarte zeigen und einen Kirschkuchen backen konnte, ohne auf das Rezept zu schielen oder die Zutaten abzuwiegen. Sie wusste es einfach, es abzustreiten wäre sinnlos.
    Während sie auf dem Weg zum Rathausplatz in der Tram saß, kam ihr die Liebe, die bis an ihre lächelnden Lippen hochkochte, ebenso echt vor wie die Beklemmung und die Scham, die sie in Wellen überkamen. Tibo. Was sollte sie Tibo sagen?
    Tibo hingegen hatte bereits entschieden, was er Agathe sagen würde. Er würde «le-ben-dig» sagen. Er würde es wieder und wieder sagen, «le-ben-dig, le-ben-dig   …», langsam und deutlich, und dabei würde er ihr direkt in die Augen sehen. Dann würde sie wissen, dass er endlich verstanden hatte. Er hatte endlich verstanden, was sie ihm hatte sagen wollen, und er wollte es zurücksagen. «Le-ben-dig, le-ben-dig   …», wieder und wieder, jeden Tag seines Lebens, wieder und wieder für den Rest seines Lebens. Nein – für den Rest ihres Lebens, darum ging es hier. Er war entschlossen, Agathe wissen zu lassen, dass sie geliebt wurde, und zwar mehr und besser alsjede andere Frau in Dot, in der ganzen Welt, und sie sollte es jeden Tag ihres Lebens hören.
    «Ich liebe dich, Agathe Stopak», rief er. «Lebendig! Ich liebe dich.» Niemand hörte ihn, denn als er diese Worte rief, stand Tibo ganz allein in der Küche seines Hauses. Trotzdem war er entschlossen, ganz Dot zu informieren. Er hatte es immer gewusst, natürlich, schon Wochen bevor Agathes Brotdose in den Brunnen gefallen war. Aber erst jetzt konnte er es sich eingestehen.
    Es würde nicht einfach werden. Das war ihm klar. Es würde einen Skandal geben. Man würde reden und mit dem Finger auf sie zeigen, aber Tibo war darauf gefasst. Als der Mann im Badezimmerspiegel ihn fragte: «Was ist mit dem Bürgermeisteramt? Willst du das aufs Spiel setzen?», konnte Tibo guten Gewissens antworten: «Ja, ich will.»
    «Was wirst du tun? Wovon wirst du leben? Wie wirst du sie ernähren?»
    «Ich werde schon etwas finden.»
    «Nicht in Dot», sagte der Spiegelbürgermeister. «Wer würde dich anstellen? Was kannst du schon? Du hast dich viel zu hoch aufgeschwungen, Bürgermeister Hochnäsig. Niemand wird dich auffangen, wenn du abstürzt.»
    «Dann ziehen wir eben um. Nach Umlaut.»
    «Dort wird es noch schlimmer sein. Du wärst eine Lachnummer. Auf der Titelseite der Umlauter Zeitungen. Mach dir nichts vor. Mit viel Glück bekommst du eine Anstellung als Piccolospieler im Pissoir, und selbst in dem Fall wird die Stadtverwaltung Schulklassen auf Ausflügen dort vorbeischicken, um dich als abschreckendes Beispiel vorzuführen.»
    «Ich ziehe nach Dash und eröffne am Hafenanleger einen Köderstand.»
    «Klingt nicht unbedingt nach dalmatischer Küste, was?», sagte der Spiegelbürgermeister.
    «Sie macht sich nichts aus der dalmatischen Küste. Sie würde sich auch

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