Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
Vom Netzwerk:
zuzuschlurfen, als Agathe das Rathaus erreichte. Sie hielt ihm die Tür auf, durch die er sich mit rotem Gesicht und grummelnd hinausschob, aber sie bemerkte ihn kaum. Es brauchte einen Schubs der Automatiktür gegen ihren Hintern, um sie zum Weitergehen zu bewegen.
    Die arme Agathe. Sie holte tief Luft, biss sich auf die Lippe, drückte den Rücken durch und stieg die Treppe empor wie Constanz O’Keefe die Guillotine in der letzten Szene von Leidenschaft in Paris. Aber oben erwartete sie kein blutrünstigerMob, kein brutaler Henker fesselte ihr die Hände auf dem Rücken, um sie mit eiskaltem Herzen und höhnischem Lächeln in die tödliche Umarmung der Guillotine zu zwingen. Nein, es war noch schlimmer. Agathe wurde vom Duft von tausend Blumen empfangen – Treibhausrosen, mitten im Dezember durch eine List zur Blüte gezwungen, Chrysanthemen, Freesien und Tausendschönchen, dazu Dutzende über Dutzende anderer Sorten, die sie nicht benennen konnte, die sie noch nie gesehen hatte, die überall herumlagen und den Raum erfüllten und die mit ihrem Duft die Luft gerinnen ließen. Und mittendrin, allein auf ihrem Schreibtischstuhl, stand die perfekte weiße Rose in einer einfachen, blauen Glasvase. Agathe beugte sich vor und nahm sie heraus, als eine schlichte, mit einer Goldkordel befestigte Karte gegen das Glas schlug. Darauf stand: «Lebendig. Tibo.»
    Agathe ließ sich auf ihren Stuhl plumpsen, sodass die Federn quietschten und der Stuhl ein Stück zurückrollte. Sie saß da, die Handtasche über dem Arm und die Rose samt Vase in der Hand, als sie sich plötzlich eine Faust in den Mund steckte und zu schluchzen anfing.
    Hinter ihr schloss sich leise die Tür zum Gang, und Tibo trat aus seinem Versteck, jenem stillen Dreieck hinter dem Türblatt, wo er auf sie gewartet hatte. Er ging schnell zu ihr, legte ihr seine Hände auf die Schultern, beugte sich vor, küsste sie auf die Stirn und sagte: «Schscht, schscht. Es ist gut – jetzt ist alles gut. Lebendig, lebendig, lebendig. Ich habe es jetzt verstanden. Nicht weinen. Bitte nicht weinen. Schsch, schsch. Oh, Agathe. Oh, liebste Agathe. Lebendig, lebendig, lebendig.»
    Agathe nahm die Faust vom Mund, ließ die Handtasche zu Boden fallen und stellte die Rose in der Vase vorsichtig auf denSchreibtisch. Neben der knallroten Lilie, die an den Schreibmaschinenschlitten drapiert war, wirkte sie sehr keusch und rein. Agathe hob einen Arm, und ohne sich umzudrehen, ohne ein Wort und ohne jedes Geräusch außer ein paar kläglichen Schniefern tätschelte sie Tibos Hand, die immer noch auf ihrer Schulter lag. Sie tätschelte ihn sanft und freundlich, es war eine beruhigende, tröstliche, mitfühlende Geste.
    «Lebendig», sagte Tibo, «lebendig.»
    Agathe sagte nichts. Sie rieb sanft seinen Handrücken.
    «Lebendig, Agathe. Lebendig.»
    Sie schwieg.
    «Agathe? Lebendig?» Er hatte eine Antwort erwartet. Hatte er den Code denn nicht geknackt? Hatte er keine Belohnung verdient? Er ließ ihre Schultern nicht los, sondern drehte sie auf dem Stuhl herum, sodass sie ihn ansehen musste. «Weine nicht. Jetzt brauchst du nicht mehr zu weinen. Von nun an kannst du glücklich sein – so glücklich, wie du mich gemacht hast.» Er nahm ihre Hand und küsste sie. «Gefallen dir die Blumen? Sie sind alle für dich. Ich fand sie sehr» – er hielt kurz inne, um die gedachten Anführungsstriche anzudeuten – «lebendig.»
    Agathe hickste kurz, dann füllten sich ihre Augen wieder mit Tränen.
    «Nicht weinen, nicht weinen», sagte Tibo. «Es ist gut. Ich habe verstanden. Lebendig. Ich weiß jetzt, was es bedeutet.»
    «Ja, Tibo, ich weiß auch, was es bedeutet.»
    «Lebendig.»
    Sie hob die Hand und legte ihm einen Finger auf die Lippen, um ihn zum Schweigen zu bringen, aber er küsste den Finger weg wie ein Idiot und sagte: «Ich liebe dich.» Eigentlich gibt es auf diesen Satz nur eine mögliche Erwiderung,und für die hat man nicht besonders viel Zeit. Agathe musste den Blick abwenden. Sie schüttelte langsam den Kopf, schloss die Augen und öffnete sie erst wieder, als sie auf den Fußboden gerichtet waren. «Da gibt es etwas, das du wissen musst», sagte sie.
    «Nein.»
    «Doch, gibt es.»
    «Nein. Hör mal, das ist doch albern. Es gibt nichts, das ich wissen müsste. Es zählt nicht.»
    «Doch.»
    «Nein. Sieh dich um. Sieh die Blumen.» Tibo ließ die Hand über dem Orchideensträußchen auf Agathes Schreibtisch schweben.
    Sie schwieg.
    Tibo ging um den Schreibtisch herum, um sein

Weitere Kostenlose Bücher