Die Liebeslotterie
lieber Gott, sie sind wundervoll», sagte sie. «Hektor, ich hatte keine Ahnung. Ich wusste nichts davon.»
«Tja, jetzt weißt du es. Obwohl du sicher nicht einmal die Hälfte weißt.»
Hektor schickte sich an, das Bett zu verlassen, wobei er sich vorsichtig auf Knie und Ellenbogen stützte, um Agathe nicht zu zerquetschen. Ein paar Sekunden lang berührten sie sich wieder auf ganzer Länge, und Agathe spürte sein Zucken. Hektor sah sie an, lächelte und küsste sie auf die Nasenspitze, dann rollte er sich ab und landete auf dem Boden.
«Hunger?», fragte er.
«Nein, danke.» Bei seinem Anblick musste Agathe unweigerlich lächeln.
«Kaffee?»
«Ja, das wäre sehr nett. Danke.»
«Ich werde gleich welchen kochen. Vorher muss ich dir etwas zeigen.»
Hektor ging zur Spüle und riss die dünnen Baumwollgardinen zur Seite. «Ich brauche Licht», murmelte er.
Agathe war mit einem spitzen Schrei unter die Decke gerutscht.
«Hektor! Ich habe nichts an!» Sie spähte unter der Decke hervor. «Du hast nichts an. Die ganze Straße wird dich sehen.»
«Keine Sorge. Da draußen ist keiner. In der Kanalstraße stehen die Leute erst auf, wenn die Drei Kronen öffnen. Außerdem wohne ich hier. Wenn ich nackt herumlaufen möchte, geht das niemanden was an. Nun sieh dir das an.»
Aus einer Lücke neben dem Spülbecken zog Hektor eine große, rechteckige Leinwand hervor, die in einen zerlöcherten Lumpen gehüllt war. «Nein, ich stehe im Licht», sagte er. «So funktioniert es nicht.» Er trug das Bild ans Fußende des Betts und hielt es in die Höhe. «Sag nichts. Fühle», sagte er und ließ den Lumpen zu Boden fallen.
Agathe hatte schon damit gerechnet, ein weiteres Bild von sich zu sehen, aber auf so etwas war sie nicht vorbereitet. Das Gemälde glühte vor Farbe und Leben und animalischer Hitze. Es wärmte das Zimmer mit seiner Wollust. In jedem einzelnen Pinselstrich konnte Agathe das dunkle Begehren fühlen, das Hektor tage- oder wochen- oder monatelang mit sich herumgetragen und mit zärtlichen, klopfenden Bewegungen in die Leinwand eingearbeitet hatte. Die gemalte Agathe lag auf der rechten Seite, sie drehte dem Betrachter den Rücken zu, und ihr Haar türmte sich auf ihrem Kopf auf, abgesehen von ein paar Locken, die ihr verführerisch in den Nacken fielen. Sie lag ausgestreckt auf einem Sofa mit dicken Kissen, umschmeichelt von Samt und Seide, die sie mit ihrer glatten, weichen, blassen Haut beschämte. Aber es gab noch mehrzu sehen, denn den gesamten Hintergrund nahm ein riesiger Spiegel mit goldenem Rahmen ein. Agathe lag lächelnd und vollkommen entblößt da und stellte jede einzelne ihrer Cellokurven schamlos zur Schau, von hinten wie von vorn.
«Es spielt auf ein berühmtes Gemälde an», sagte Hektor, «die Venus vor dem Spiegel von einem Maler namens Velázquez. Man nennt ihn einen Alten Meister. Wahrscheinlich hast du nie von ihm gehört.»
«Oh, doch. Ich kenne das Bild.» Agathe hatte die Decke zurückgeschlagen und kroch nun über die Matratze wie eine Tigerin, die eine Rivalin stellt. Das Gemälde faszinierte sie und stieß sie zugleich ab. Im Spiegel dieses wissende Lächeln, diese gierigen Augen. Woher hatte er es gewusst? Wie hatte er das malen können?
Hektor zeigte auf die Leinwand. «Ich habe den Spiegel vergrößert. Damals gab es nur kleine, aber ich wollte …»
«Ich weiß, was du wolltest. Du wolltest mich ganz.» Agathe kniete am Fußende und starrte auf das Bild, sie ignorierte die morgendliche Kälte und dass der Vorhang aufgezogen war. «Du wolltest mich ganz.» Sie streckte die Hand aus, um das Bild zu berühren, aber Hektor tänzelte damit zurück.
«Nicht anfassen», sagte er.
Als das Bild wieder abgedeckt war, ließ Agathe sich auf das Bett zurücksinken wie jemand, von dem ein Zauber abfällt. Dann streckte sie sich lang aus und wälzte sich ein wenig hin und her, sie schmollte und flirtete und bewegte sich zum Klang von Worten, die nur sie allein hören konnte. «Hektor wollte mich ganz», sagte sie, «und Hektor darf mich berühren, wenn Hektor es will.»
«Hektor will.»
«Zieh die Vorhänge zu», sagte sie.
Zieh die Vorhänge zu. Vermutlich ein sehr weiser Vorschlag. Bei geschlossenen Vorhängen, und seien sie noch so dünn und kurz, würde in der Kanalstraße niemandes Aufmerksamkeit auf das Haus Nummer 15 gelenkt, nichts würde die blassen Kinder mit den abgewetzten Hosen und löchrigen Schuhen davon abhalten, sich auf dem Weg zur Grundschule des östlichen
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