Die Liebeslotterie
Bezirks weiter gegenseitig mit Schneebällen zu bewerfen. Und selbst wenn eine Barkasse voller Kohlen zufälligerweise über den Kanal geschippert wäre, hätte der Kapitän keinen Grund gehabt, zu glotzen und entgegen der Fahrtrichtung übers Deck zu laufen, um möglichst lange auf gleicher Höhe mit dem Fenster zu bleiben. Er hätte nicht die leiseste Ahnung gehabt, dass dahinter eine schöne, junge Frau lag und zum vielleicht fünften Mal seit gestern Mittag mit dem Cousin ihres Ehemannes schlief. Lieber Leser, seien Sie so gut und warten Sie geduldig draußen im Schnee, bis Agathe die Vorhänge wieder aufzieht, frischgewaschen und angekleidet, gekämmt und geschminkt. Und als sie es an jenem Morgen tat, waren die Omelettpfanne und die Wodkagläser blitzblank gespült, und auf dem Herd stand eine Kanne mit heißem Kaffee.
Agathe stellte die Kanne auf ein Tablett, zusammen mit der Milchflasche, die sie auf dem Fenstersims des Badezimmers entdeckt hatte, dazu zwei blaue Tassen und eine grüne Zuckerdose. Feuchte Löffel hatten den Zucker in einen einzigen, harten Klumpen verwandelt, aber ein paar Piekser mit der Gabel hatten ausgereicht, um ihn halbwegs wieder zu zerbröseln. Agathe trug das Tablett zum Tisch in der Zimmermitte, wo Hektor in Hemdsärmeln saß und die Morgenpost vom Vortag las.
Und dann passierte etwas Seltsames. Das Schluchzen, dasAgathe einen Tag zuvor beim Suppeessen im Goldenen Engel überkommen hatte und das sie als Lachen maskiert hatte, kam plötzlich zurück. Agathe hatte sich an den Tisch gesetzt und damit begonnen, den Kaffee auszuschenken, als sie zu lachen anfing. Sie lachte, bis sie weinen musste, sie lachte mit vor das Gesicht geschlagenen Händen und verbarg ihre Augen, bis sie schluchzte und würgte und heulte, bis sie jaulend vornübersackte und die Tischplatte mit beiden Fäusten bearbeitete und Tränen von ihren Wangen auf die gestreifte Wachstuchdecke tropften.
Stopak hätte so etwas Angst gemacht. Tibo ebenfalls, aber Tibo hätte wenigstens versucht, sie zu berühren, sie in den Arm zu nehmen, ihre Hand zu tätscheln und sie zu beschwichtigen, bis es vorüber war. Aber keiner der beiden hätte sie verstanden oder gewusst, was zu tun war. Hektor war klüger. Er blieb am anderen Tischende sitzen, nippte vom heißen Kaffee, las die Tipps fürs Pferderennen und warf ihr hin und wieder einen flüchtigen Blick zu, ohne etwas zu sagen oder sie zu berühren.
Selbst als Agathe nicht mehr schluchzte, blieb er stumm. Er hatte kein Wort gesagt, als sie ihren Kopf auf den Tisch gelegt und gejammert hatte. Als sie ruhig war und nur noch leise schniefte, gab Hektor keinen Ton von sich. Er las weiter, bis Agathe sich aufraffte, den Kaltwasserhahn über der Spüle aufdrehte, sich das Gesicht wusch, das Geschirrtuch von der Ofenklappe zog und es sich gegen die Augen drückte. Selbst da sagte Hektor nichts. Er wartete, bis der Wecker auf dem Fensterbrett zwanzig Mal leise und blechern getickt hatte, bevor er die Zeitung sinken ließ, die Tasse zurückstellte und sagte: «Das musste raus.»
«Ja», murmelte Agathe. «Oh Gott, was haben wir getan? Hektor, was haben wir getan?»
«Wir haben einander sehr glücklich gemacht – das haben wir getan. Na ja» – bescheiden schlug er die Augen nieder –, «wenigstens hast du mich glücklich gemacht.»
Sie schlug mit dem Handtuch nach ihm. «Du hast mich auch glücklich gemacht. Sehr sogar.»
«So meinte ich das nicht», erklärte er. «Hör mal, ich wollte damit Folgendes sagen: Falls du den gestrigen Abend bereust, ist er nie passiert. Geh zur Arbeit und sage, du hättest verschlafen. Stopak wird nicht einmal merken, dass du nicht zu Hause warst. Wahrscheinlich schläft er wie immer seinen Rausch aus. Geh rüber und stell ihm einen Kaffee hin, und er wird es nie erfahren. Jedenfalls nicht von mir.»
«Ist es das, was du willst?»
«Ist es das, was
du
willst?»
«Sag mir, was ich tun soll», bat sie.
«Nie im Leben. Versprochen.»
«Dann sag mir, was du willst. Sag es mir.»
«Ich will, dass du bei mir einziehst.»
«Oh Gott.» Wieder vergrub Agathe das Gesicht im Geschirrtuch.
Hektor stand auf, stellte sich vor sie hin, legte ihr seine Hände auf die Schultern und zog sie an seine Brust. Er sagte: «Agathe, hör mich an, und wenn ich auch nur ein unwahres Wort sage, wirst du es sofort spüren. Ich liebe dich. Ich liebe dich seit dem Tag, als du Stopak geheiratet hast und wir auf der Hochzeit getanzt haben. Ich liebe dich. Und
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