Die Liebeslotterie
eine Lügnerin und eine Hure. Aber wie konnte ich mich in eine Lügnerin und Hure verlieben? Was sagt das über mich aus? Was tauge ich, wenn es mir nicht einmal gelingt, eine Lügnerin und Hure als solche zu erkennen? Vielleicht habe ich die Buchhaltung mit Dieben und Verbrechern besetzt. Wenn Agathe eine Lügnerin und Hure ist, hat nichts mehr Bestand, ergibt nichts mehr einen Sinn, ist nichts mehr sicher. Es kann also nicht sein. Agathe ist eine gute Frau. Wie konnte sie mir das antun?» Wieder und wieder, weiter und weiter, im Gleichklang mit den tobenden Wellen zu seinen Füßen, die ihm eine verlockende Einladung entgegenkeuchten. Tibo trat von der Uferkante zurück und bewegte sich rückwärts, bis er mit dem Rücken an die soliden Mauern des Leuchtturms stieß. Dort wartete er, bis der Sirenengesang verhallt war.
«Das werde ich nicht tun», sagte er sich. «Auf gar keinen Fall. Ich bin Tibo Krovic, Bürgermeister von Dot. Ich werde nicht verrückt. Ich werde nicht verrückt.» Er sagte es wieder und wieder, immer lauter, bis er die Wellen niedergebrüllt hatte und die Möwen erschreckt aufflogen und zeterten. Und dann, wenn ihm das Haar tropfnass am Kopf klebte und sein Mantel im Wind flatterte, stolperte er über den Kies der Nehrung zum Hafen und bis nach Hause zurück. «Ich werde nicht verrückt.» Er wiederholte es wie ein Mantra, das ihn vor dem Wahnsinn schützen sollte. Zumindest schützte es ihn vor den Frauen, die in den dunklen Hafenecken lauerten und sich in die Lagerhallen zurückzogen, sobald er vorbeikam. Den Umgangmit Krüppeln sind sie gewohnt, aber die Verrückten meiden sie. Manchmal scheinen die Verrückten Gottes Stimme zu hören, und der hat nur selten ein gutes Wort für Huren übrig, außerdem tragen manche Verrückte ein Messer, um Gott bei der Vollendung seines Werkes zu helfen. Die Frauen hörten Tibos geflüsterten Schwur und ließen ihn unbehelligt vorbeiziehen, wobei sie sich fragten, ob sie von sich dasselbe sagen konnten. «Ich werde nicht verrückt? Ich werde nicht verrückt? Noch so ein Winter, und es ist so weit.»
Während seiner täglichen Wanderungen zum Leuchtturm hatte Tibo gelernt, die Möwen zu lieben. Um nicht verrückt zu werden, hatte er beschlossen, so wie sie zu sein. Wenn man kein Zuhause hat, ist es egal, wo man sich aufhält. Egal, ob die Wellen sich wie schwarze Mauern heranschieben. Lass dich einfach treiben. Überlebe. Sei wie die Möwen.
Im Büro begann Tibo jeden Tag mit dem unsinnigen Anliegen, direkt hinter der Tür zu stehen und auf Agathes Ankunft und das «Klonk» ihrer Galoschen zu warten, sich hastig auf den Teppich zu werfen, um durch den Türspalt einen Blick auf ihre kleinen, wurstigen Zehen zu erhaschen, die sich in die Sandaletten bohrten. Es folgten noch ein paar Sekunden würdelosen Zappelns, und dann stand der gute, arme, liebeskranke Tibo seufzend auf, wischte sich die Teppichflusen vom Anzug und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch, um den Kopf auf die Schreibtischunterlage zu legen und Agathe Stopak zu lauschen, die nebenan über den Fliesenboden klapp-klapp-klapperte, irgendetwas in den Aktenschrank räumte, Kaffee kochte oder einfach nur weich und duftend und wunderschön und auf der anderen Seite der Tür war. Dabei seufzte, stöhnte und weinte er.
Tibo versuchte, eine Möwe zu sein. Er versuchte, sich treibenzu lassen und sich wohl zu fühlen, egal, an welchem Ort. Einfach treiben lassen. Dann hatte er das Bild einer Möwe vor Augen, die nach einem Sturm aufwacht, weit draußen auf dem Meer und ohne Land in Sicht; sie flattert, erhebt sich aus dem Wasser und beginnt zu fliegen. «Ich bin in die falsche Richtung geflogen», sagte Tibo, «auf den Ozean hinaus, und nun werde ich nie nach Hause finden. Die ganze Zeit bin ich in die falsche Richtung geflogen.» Er ließ den Kopf zwischen die Hände sinken und weinte bitterlich.
Tibo weinte viel. Am Leuchtturm, in seinem großen, alten Haus am Ende des blaugekachelten Pfads und in seinem Arbeitszimmer, allein und bei geschlossener Tür. Er entwickelte eine gewisse Mühelosigkeit darin. Er konnte spontan weinen, so, wie andere ein kurzes Nickerchen halten können. Hatte er zwischen zwei Terminen einmal zehn Minuten frei, konnte er sich ganz seinem Kummer anheimgeben, die Tränen auf die Schreibtischunterlage tropfen lassen, innehalten, sich sammeln und sich wieder seinem Tagwerk zuwenden. Agathe wusste es natürlich, und es schmerzte sie, aber sie konnte nichts für ihn
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