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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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tun.
    Eines Tages, kurz nachdem sie in die Kanalstraße gezogen war, startete sie einen Versuch. Sie klopfte vorsichtig an die Tür zu Tibos Arbeitszimmer, wartete, hörte nichts, klopfte noch einmal und trat, kurz nachdem Tibo mit erstickter Stimme «Herein» gesagt hatte, mit einer Postmappe ein. Tibo hielt den Kopf gesenkt, scheinbar in irgendeinen Bericht vertieft und zu beschäftigt, um aufzublicken oder sie zu begrüßen, nicht einmal, als sie ihm die Mappe auf den Tisch legte oder seine Hand ergriff. Er erstarrte. Sein Füllfederhalter hielt mitten im Satz inne.
    Agathe wusste, sie hatte einen schrecklichen Fehler begangen, aber anscheinend konnte sie nicht anders, als es noch schlimmer zu machen. Es war, als gebe es zwei Agathes, die eine stand neben dem Schreibtisch und hielt die Hand des bockigen Tibo, die andere schwebte unter der Zimmerdecke und schaute entsetzt zu, wie die erste sagte: «Tibo, bitte, ich möchte, dass du mich verstehst. Es hat nichts mit dir zu tun. Du bist immer noch derselbe wunderbare, liebenswerte Mann, und du wirst es immer sein, und ich werde dich immer, immer lieben, aber ich habe keine andere Wahl. Ich musste mich so entscheiden. Bitte, Tibo, versuch, dich für mich zu freuen. Versuch, mich zu verstehen.»
    Tibo hob den Blick nicht von seinen Unterlagen. Seine Hand lag in ihrer wie ein toter Fisch. Er sagte: «Ich verstehe. Ich verstehe vollkommen. Wie oft noch? Wie oft muss ich dich noch freisprechen? Wie oft soll ich noch für dich bluten? Ich habe mir nie etwas anderes gewünscht als dein Glück. Und nun bist du glücklich, und ich kann es auch sein. Ich bin glücklich für dich, und dies   …» – er umrandete die blassen Kleckse auf seiner Schreibtischunterlage mit wütenden Schnörkeln   –, «dies sind Freudentränen.»
    Agathe ging. Es gab nichts mehr zu sagen, und sie wollte verschwinden, bevor ihre Tränen auf der Schreibtischunterlage neben Tibos landeten. Auf dem Fenstersims der «Grund und Boden»-Gesellschaft, drüben auf der anderen Seite des Platzes, tanzte eine Taube. Agathe starrte sie konzentriert an und hielt sich mit beiden Händen an der Schreibtischkante fest, so als fürchte sie, abzustürzen. Sie hörte, wie sich in ihrem Rücken die Tür zu Tibos Arbeitszimmer mit einem Klicken schloss.
    Tibo ging ihr nicht aus dem Kopf. Als sie an jenem Abendausgestreckt auf dem Bett lag und Hektor stumm am Küchentisch saß und sie zeichnete, tobte sie innerlich. Er hat nicht das Recht   …, dachte sie. Es geht ihn nichts an   … Er hatte seine Chance. Er hatte mehr als eine. Ich werde mir das nicht kaputt machen lassen von ihm und seinem ewigen Geschniefe. Jetzt habe ich einen richtigen Mann. Sie legte den Kopf schräg und sah Hektor an.
    «Du liebe Güte, halt still», sagte der.
    «Entschuldigung.» Agathe nahm ihre Position wieder ein. «Können wir uns nicht unterhalten?»
    «Nein. Ich arbeite. Denkst du, ich mache das aus Jux und Dollerei? Halt einfach den Mund.»
    Agathe seufzte und übte sich wieder in hochachtungsvollem Schweigen.
    In einer Ecke unter der Decke entdeckte sie ein Spinnennetz und drei teerfarbene Flecken, zwei große und einen kleinen. Wie waren die da hingekommen? Und was war mit diesem Tibo Krovic los? Dass er so verletzt war, kränkte Agathe. Mehr, als sie zugeben wollte. Er hätte toben und schreien und sie beschimpfen sollen, er hätte um sie kämpfen sollen, ja, sogar schlagen hätte er sie sollen – aber nein, nichts davon. Er bestand hartnäckig darauf, ihr nur Gutes zu wollen, obwohl man sehen konnte, dass er elendiglich zugrunde ging. Das tat er nur, um ihr eins auszuwischen.
    «Du hast das Bein bewegt. Leg es zurück. Nein, das andere! Jetzt hast du beide bewegt. Weiter auseinander! Gut.»
    Am meisten ärgerte Agathe sich über Tibos unverhohlenes Leiden. Es kränkte ihre weiblichen Instinkte und ihre mütterlichen, nährenden, pflegenden, heilenden Gefühle, über die sie in üppigen Mengen verfügte. Er brauchte Nahrung. Sie könnte ihm welche bringen. «Na ja, das wäre wohl möglich.Ich könnte. Immerhin habe ich es schon einmal getan. Es hätte nichts zu bedeuten. Es wäre ein Akt der Menschenfreundlichkeit. Ich könnte. Ein Mal wenigstens.»
    Hektor ließ sein Skizzenbuch zuklappen. «Halt still», sagte er, «absolut still. Bleib so. Ich will dich genau so, mit diesem Gesichtsausdruck.» Er warf seine Hose neben das Bett und stürzte sich auf sie.
     
    Am nächsten Morgen – es war Donnerstag und der letzte

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