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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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Samtkordel, die an der Wand entlang verlief wie ein Geländer, und darüber sah sie goldene Formen blitzen, Dreizacke und Löwenmasken, die den Glaskugeln der alten Gaslampen als Halterung dienten. Und dann, als das Licht des Schlafzimmers kaum noch zu sehen war, fing es weiter vorn in allen Regenbogenfarben zu leuchten an –gold und rot und blau und grün ergoss das Licht sich von oben durch eine bunte Glastür auf die dunkle Treppe. In den glühenden Scheiben entdeckte Agathe Rosen und Lilien und wilde Blätter, und da, ganz in der Mitte, zwei Masken nebeneinander, eine lachende und eine weinende.
    «Ein Theater!», rief Agathe.
    «Natürlich», sagte Mamma Cesare. «Hast du vielleicht Fischmarkt erwartet?»
    «Aber ich habe mein ganzes Leben hier verbracht und nie von diesem Ort gehört.»
    Mamma Cesare schnaufte. «Dein ganzes Leben. Wie lange soll das sein? Du bist vorgestern geboren, und übermorgen hast du es wieder vergessen.»
    «Können wir hineingehen?»
    «Können wir uns eine dümmere Frage vorstellen?» Mamma Cesare lehnte sich an die Tür und stieß sie auf.
    Es war wie beim Betreten einer Schatzkiste, nur, dass diese groß wie ein Saal und mit goldenen Blumen und Früchten überreich verziert war. Rings um die Bühne waren dralle, goldene Putten an der Wand angebracht, deren Gesichter glühten angesichts der Dinge, die bald, jeden Augenblick, auf der Bühne geschehen würden. Die nahzu blinden, silbern gerahmten Spiegel an den Wänden, neblig und gesprungen wie ein gläserner Schneesturm, reflektierten ein halbes Dutzend Sitzreihen aus roten Samtsesseln, und an dem Rokoko-Kerzenleuchter in Tintenfischform, der hoch oben unter der Decke hing, glommen zahllose Lampen.
    «Es ist wunderschön», hauchte Agathe.
    «Wunderschön», stimmte Mamma Cesare zu.
    «Ein wunderschönes, winziges, geheimes Theater. Wer weiß von diesem Ort?»
    «Du, ich und Cesare. Er tut so, als hätte er vergessen.»
    «Wie kann man so etwas vergessen? Es ist wundervoll.»
    «Er kann. Als er ein kleiner Junge ist, erschreckt es ihn so, dass er nie zurückkommt. Mach die Tür zu und verschließe sie, stell einen Tisch davor und tu so, als sei nichts dahinter. So machen die Leute das. Manchmal schließen die Leute die Tür ab und tun so.»
    Falls Agathe sich in diesen Worten wiedererkannte, verbarg sie es geschickt. Sie sagte: «Aber hier ist es wunderhübsch. Warum gefällt es ihm nicht?»
    Mamma Cesare holte tief Luft und starrte an die Decke. «An dem ersten Tag, als wir dir Tür öffneten, ist alles schwarz. Überall Spinnweben und Staub, wie ein Pelz auf dem Boden, und überall in der Luft, hier, hier, da, überall alte Kisten und Papier und Müll. Der kleine Cesare, er läuft weg und kommt nicht zurück. Er mag es nicht. Er mag das Zirkusvolk nicht.»
    «Das Zirkusvolk?»
    Mamma Cesare nahm Agathe bei der Hand und führte sie in die erste Sitzreihe. «Hier», sagte sie, «setz dich neben mich und sag mir, was du hörst.»
    Agathe lauschte. Im Theater war es still. «Nichts», sagte sie. Sie legte den Kopf schief und lauschte noch einmal. «Nichts.»
    «Später vielleicht», sagte Mamma Cesare.
    «Was sollte ich hören?»
    «Du hörst. Ich rede. Ich und mein Cesare, als wir die alte Heimat verlassen, denkst du, wir wollen nach Dot? Was ist Dot? Wer kennt Dot? Wir kennen nur Amerika! Du gehst nach Amerika, du arbeitest hart, du verdienst viel Geld, und eines Tages ist der kleine Cesare Präsident der ganzen amerikanischen Staaten! Also wir gehen. Wir gehen Tage und Tage, mein Cesare und ich, und wir kommen ans Meer, und wir finden einSchiff nach Amerika.» Streng hob Mamma Cesare einen Finger. «Keine Fragen. Nicht reden. Zuhören. Was hörst du?»
    «Nur Sie», sagte Agathe.
    «Benutze dein anderes Ohr! Zwei Wochen wir sind auf dem Boot, schwanken und hüpfen auf und nieder, aber endlich haben wir ruhiges Wetter – dieser Cesare, was für ein Mann!» Mamma Cesare lachte, bis sie husten musste, und sie hustete, bis sie würgen und pfeifend um Atem ringen musste.
    Agathe betrachtete sie besorgt. «Es geht Ihnen nicht gut. Sie gehören ins Bett. Ich werde Ihnen einen Tee kochen.»
    «Es ist egal. Höre zu. Höre immer weiter zu.»
    Agathe nickte und ergriff die Hand der alten Frau. Sie machte sich Sorgen. «Ja, ja, ich höre zu.»
    «Zwei Wochen auf dem Boot, und eines Nachts zieht der Kapitän die Vorhänge auf und zeigt uns Amerika. Aber überall wartet Polizei, sagt er. Also steigen wir in ein kleines Boot, und wir rudern an

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