Die Liebeslotterie
rutschte auf ihrem Sitz herum.
«Rutsch nicht herum, als musst du mal», mahnte Mamma Cesare. «Schau hin. Schau nur zu.»
Mamma Cesare kannte die Zirkusleute genau. Sie kannte ihre Namen und ihre Geschichten. Sie konnte sie deutlich sehen, für Agathe hingegen war es, als beobachte sie ein Foto in einem Chemikalienbad. Langsam, ganz langsam, formten sich Gestalten auf der Bühne, schöne, langbeinige Tänzerinnen mit sternenübersäten Strümpfen, ein Muskelmann in einem Leopardenkostüm, die Hunde, die durch mit Papier bespannte Reifen sprangen, die Jongleure mit den indischen Keulen.
«Sie wollen dich lange schon kennenlernen. Und sie sagen, dieser Mann, der Maler, wird dich niemals glücklich machen.»
Agathe schlug die Augen nieder und sagte: «Ich weiß. Ich habe den Maler verlassen.»
«Nein, du hast den Anstreicher verlassen. Du bist zum Maler gegangen. Du denkst, ich weiß das nicht? Du denkst, sie wissen das nicht?»
Agathe bemerkte, dass das Zirkusvolk auf der Bühne still stand. Niemand tanzte, niemand jonglierte, alle starrten sie an. Ein verschwommenes, blaues Licht durchzuckte sie, es war wie ein Vögelchen, das von Ast zu Ast hüpft, und als es vorbeikam, war Agathe ganz Liebe und Zuneigung.
Mamma Cesare zeigte wütend auf die Bühne. «Sie wissen. Du hattest einen guten Mann, und du hast ihn weggeschickt.»
«Stopak war kein guter Mann!»
«Wer redet von Stopak? Sieh sie dir an. Sieh dir die Bühne an. Denkst du, sie wissen es nicht? Denkst du, deine Großmutter weiß es nicht?»
«Großmutter!» Agathe starrte mit weit aufgerissenen Augen in das Licht auf der Bühne. «Großmutter, bist du das?»
Mamma Cesare war verzweifelt. «Dumme Gans! Das ist nicht deine Großmutter, das ist mein Cesare. Kannst du seinen Schnurrbart nicht sehen? Ach, du machst mich müde. Ich muss ins Bett. Du gehst jetzt. Und vergiss nicht.»
Agathe flüsterte: «Aber meine Großmutter hatte einen Schnurrbart.»
AGATHE FUHR auf dem Oberdeck der Tram zurück, sie ließ sich den kalten Wind um die Ohren blasen und versuchte, das Gesehene und Gehörte zu verstehen. «Aber meine Großmutter hatte einen Schnurrbart», sagte sie wieder und wieder. «Meine Großmutter hatte einen Schnurrbart», bis es so lächerlich klang, dass sie lachen musste. Und noch bevor die Tram die Grüne Brücke erreicht hatte, erkannte Agathe, welchem Unsinn sie aufgesessen war. Ganz offensichtlich handelte es sich um Unsinn. Es konnte nichts anderes sein als Unsinn. Sie war übermüdet – das war der Grund. Überanstrengt. Ein Spuktheater! Ein geisterhafter Muskelmann in langen Unterhosen und mit eisernen Hanteln! Allein der Gedanke war so lächerlich, dass Agathe wieder in Gelächter ausbrach; sie hörte jedoch sofort damit auf, als die Tram an der Ampersandallee um die Ecke bog und Agathe Hektor aus den Drei Kronen kommen sah. Wie ein Affe, mit schlenkernden Armen und fast bis auf den Gehsteig hinuntergebeugt, torkelte er vom Rinnstein an die Hauswand und zurück. Agathe beobachtete ihn so entsetzt und angewidert, wie sie jeden anderen heruntergekommenen Säufer beobachtet hätte, aber dann fiel ihr plötzlich wieder ein, wie sehr sie ihn liebte und wie sehr sie sich für sein ihr unbekanntes Verbrechen schämte, und dann erinnerte sie sich daran, wie es war, ihn zu küssen. Er tat ihr leid. Der arme Hektor.
Agathe stieg an der Gießereigasse aus und rannte, klappe-di-klapp,durch den Tunnel, übers Kopfsteinpflaster, durch die Kanalstraße bis zur Wohnung. Sie lag im Bett, drall und blass und ganz hinten an der Wand, als Hektor hereinkam, und stellte sich schlafend, während er herumlärmte, wie es nur ein um Stille bemühter Betrunkener kann.
Sogar, als er den Stuhl umwarf, tat Agathe, als habe sie nichts gehört, und als er das Laken zurückschlug und neben ihr ins Bett fiel wie ein gefällter Baum, nur, um sofort und auf dem Rücken liegend einzuschlafen, wartete Agathe einen kurzen Moment, bevor sie ihn zudeckte, ein Bein über ihn legte und ihn küsste. Die Stoppeln an seinem Kinn kratzten sie auf vertraute Weise.
«Meine Großmutter hat einen Schnurrbart», sagte sie, küsste ihn noch einmal und schlief ein.
Sie lag immer noch so da, mit Armen und Beinen um Hektor gewickelt, als der Wecker auf dem Fenstersims klingelte.
Agathe ließ sich vom Bett rollen. Hektor regte sich nicht. Sie wusch sich und zog sich an, und als sie ans Bett zurückkam, hatte er sich auf der warmen Stelle zusammengerollt, die sie hinterlassen hatte,
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