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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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Aleksanderstraße hätte sie in die Tram einsteigen und am Ampersand entlangfahren können, aber weil es noch früh war, beschloss sie, im Goldenen Engel einen Kaffee zu trinken.
    Agathe überquerte die Straße und stellte sich an die Abzweigung zur Grünen Brücke, um auf die Schlossstraßen-Liniezu warten. Nervös beobachtete sie das Ende der Aleksanderstraße. Selbstverständlich kam Hektor um die Ecke geschlendert. Er entdeckte sie. Er starrte sie direkt an und kräuselte die Lippen. Agathe sah, wie sein Schnurrbart sich an einem Ende hob. Was für ein dümmliches Grinsen. Was sollte das bedeuten? Eine anständige Frau so anzustarren   … Es war, als wisse er Bescheid. Er konnte es unmöglich wissen. Was gab es da zu wissen?
    Die Tram näherte sich, und Agathe hob den Arm. Der Schaffner schlug die Glocke, um den Halt anzukündigen, und flink sprang Agathe auf die Plattform am hinteren Ende. Während die Tram losfuhr, warf Agathe einen Blick zurück und sah Hektor vor dem Gasthaus zu den Drei Kronen stehen – ein derbes Lokal, wo die Männer wetteten und sich prügelten. An Samstagabenden strömten sie auf den Gehsteig, um auszuspucken und sich lautstark zu streiten. Agathe sah, wie Hektor auf einen Mann mit zerrissenem Pullover zuging. Der Mann gab Hektor eine Zigarette. Hektor starrte Agathe immer noch nach, während die Tram die Brücke überquerte und um die Ecke bog.
    Agathe richtete den Blick nach vorn. Überall in Dot gingen die Leute im Sonnenschein zur Arbeit. Agathe beobachtete sie, während die Tram durch die Stadt zuckelte. An der nächsten Haltestelle küsste sich ein Paar zum Abschied, die Frau stieg auf die Plattform und winkte. Ein kleiner Junge in kurzen Hosen kickte einen roten Ball vor sich her, während er die Morgenpost nach Hause trug, ein gelber Hund hüpfte an einer Leine nebenher. Sie hörte sein Kläffen verhallen, als die Tram über die lange Allee donnerte, die auf meine Kathedrale zuführt. Ungerührt hob Agathe den Blick, als die Tram in den Schatten der riesigen Domkuppel eintauchte. Eigentlichhätte jetzt dramatische Orgelmusik erklingen müssen, oder rauschende Engelsgesänge. Aber nein. Nichts. Sie fühlte nichts. Keine Ehrfurcht, keine wärmende Glut, nichts. Ein bisschen Wut und Enttäuschung vielleicht, aber abgesehen davon – nichts.
    Die Maisonne fiel durch die jungen, zarten Blätter der Alleelinden, und Agathe erkannte die Silhouetten der winzigen Vögel, die zwischen den Ästen umherflatterten. Sie schlugen wie wild mit den kleinen Flügeln – schneller, als das Auge sehen konnte   –, was sie zu erschöpfen schien, denn urplötzlich falteten sie die Flügel ein und ließen sich fallen, sie fielen, fielen, fielen einen Herzschlag lang, nur, um die Flügel wieder auszuklappen und weiterzuflattern. Sie waren überall in den Bäumen, sie flatterten, flogen, fielen.
    Agathe bog den Kopf zurück, um sie zu beobachten, während die Tram dahinratterte. Schau sie dir an, dachte sie, warum tun sie das? Was hat das wohl zu bedeuten? Aber da kam sie sich plötzlich lächerlich vor und konzentrierte sich lieber angestrengt auf die Handtasche auf ihren keusch zusammengepressten Knien. Es hatte gar nichts zu bedeuten. Sie taten es einfach. Manche Vögel breiteten die Flügel aus, um endlos über dem Ozean zu kreisen, andere mussten flattern wie Aufziehspielzeug, um von einem Ast zum nächsten zu kommen. Was das bedeuten sollte? Nichts! Was hat es zu bedeuten, wenn eine erwachsene Frau nach dem Sinn solcher Sachen fragt? Manche Vögel fliegen so, andere so, die Blätter wachsen an den Bäumen, die Blätter fallen herunter, ein Mann begehrt dich, ein Mann begehrt dich nicht mehr, ein Kind wird geboren, ein Kind stirbt. Mehr ist nicht dabei. Es hat keine Bedeutung. Es bedeutet gar nichts.
    Agathe spürte, wie ihre Augen feucht wurden, und holtehastig ein kleines Taschentuch aus ihrer Handtasche, um die Tränen mit einer Stoffecke abzutupfen, bevor sie ihr die Schminke ruinieren konnten.
    Der Schaffner läutete seine Glocke. «Nächster Halt: Schlossstraße!»
    Sie stand auf, wankte ans Ende der Tram und stieg von der Plattform. Der Goldene Engel lag auf der anderen Seite der Kreuzung. Agathe blieb am Bordstein stehen, wartete auf eine Lücke im Verkehr und überquerte die Straße. Als sich die schweren, verglasten Türen des Cafés hinter ihr schlossen, verstummte der Straßenlärm, so als sperre ein beflissener Majordomus ihn höflich, aber bestimmt aus. Drinnen duftete es nach

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