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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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und ich sehe, dass du zu spät zur Arbeit kommst.»
    Erschrocken richtete Agathe sich auf und schaute auf ihre Armbanduhr. Der Tisch an der Säule war leer, sah man von einer fast vollen Tüte Pfefferminzbonbons ab, und geradefiel die schwere Doppeltür geräuschlos zu. «Ich muss gehen», sagte sie. «Ich komme zu spät zur Arbeit!» Unbeholfen kletterte sie vom Hocker, wobei ihr Kleid ungehörigerweise noch weiter an ihren Schenkeln hinaufrutschte.
    «Zehn Uhr», sagte Mamma Cesare. «Ich will dir etwas zeigen. Und nun beeil dich.»
    «Du liebe Güte, ich kann nicht um zehn herkommen. Das ist spät.»
    «Zehn Uhr. Den Kaffee du zahlst später. Ich werde nicht warten.»
    Agathe stieß die Tür auf und hastete hinaus.
    Draußen strahlte immer noch die Sonne. Vor der großen, geschwungenen Glasfront des Goldenen Engels hielt Agathe kurz inne, um sich die Handschuhe überzustreifen und ihr Aussehen in der Scheibe zu überprüfen.
    Mamma Cesare winkte ihr von hinter dem Tresen aus zu. Ihre knollige Hand hob sich über die Magahonibar wie die eines Seemanns, der über Bord gegangen ist und nun von den Wellen verschluckt wird. Alles war ordentlich, alles saß korrekt, Agathe war fertig fürs Büro, aber sie würde sich beeilen müssen.
    Trotz des Straßenlärms meinte sie zu hören, wie sich oben in den Türmen der Kathedrale Maschinen in Gang setzten, wie Gewichte verschoben und Ketten aufgerollt wurden und ein großes eisernes Getriebe zu schwirren begann. Agathe lief durch die Schlossstraße, ohne ihrem Spiegelbild in den Schaufenstern noch viel Beachtung zu schenken. Als sie Verthun Smitt erreicht hatte, den großen Eisenwarenladen mit dem doppelten Schaufenster, konnte sie vor sich auf der Straße Bürgermeister Krovic erkennen, der gerade die Weiße Brücke betrat. Oben auf dem Hügel öffneten sich die Türenüber der breiten Westfront der Kathedrale, und ein bemalter Kupferapostel mit glänzendem Messing-Heiligenschein schickte sich an, auf seinem Wagen hinauszufahren, während ein schwarzer Emailleteufel sich bereit machte, für eine weitere Stunde vertrieben zu werden.
    Bürgermeister Krovic hatte die Brücke überquert und betrat schwungvoll den Rathausplatz. Agathe, ein wenig außer Atem, folgte ihm dicht auf den Fersen. Sie beeilte sich.
    Eine alte Frau hob ihren roten Regenschirm – tatsächlich, ein Regenschirm, an einem Tag wie diesem! – und schwenkte ihn. «Bürgermeister Krovic, Bürgermeister Krovic, nur auf ein Wort bitte. Es geht um die Schule meines Enkels.»
    Und weil der gute Bürgermeister Krovic immer stehen blieb, um die Bürger von Dot anzuhören, blieb er stehen, um die alte Frau mit dem roten Regenschirm anzuhören, während der erste, dunkle, bronzekehlige Schlag des Neun-Uhr-Läutens den Rathausplatz erfüllte und Agathe an ihm vorbei auf die Rathaustreppe zustrebte. «Guten Morgen, Bürgermeister Krovic», keuchte sie, und er nickte höflich. Agathe hatte nicht einmal die in einer Reihe schwimmenden, quakenden Entenküken bemerkt, als sie über die Brücke gelaufen war.

 
    IM RATHAUS wandte Peter Stavo sich mit klapperndem Eimer vom Fuß der grünen Marmortreppe ab. «Habe ich eben gewischt!», rief er Agathe zu.
    «Tut mir leid, ich werde vorsichtig sein.» Sie streifte ihre Schuhe ab und hüpfte nach oben. Als der gute Tibo Krovic einen Augenblick später vom Rathausplatz hereinkam, sah er Agathes Zehenabdrücke auf den Steinstufen verdunsten. Er seufzte.
    Auf halbem Weg zu seinem Büro blieb Tibo mitten im Flur auf dem dicken, blauen Teppich stehen, um das große Gemälde vor dem Ratssaal zu bewundern – Die Belagerung von Dot. Darauf war Bürgermeister Skolvig mit einem halben Dutzend seiner Männer zu sehen, sie hatten sich im Turm des alten Zollhauses verschanzt und beschossen hartnäckig den Feind, der das Städtchen plünderte. Die anmutigen Ornamente im Mauerwerk rund um die Fenster waren zur Hälfte abgeschossen, und alle Männer waren verletzt und bandagiert, alle außer Skolvig, der einen schwarzen, männlichen Aufzug mit steifer Spitzenhalskrause trug und heroisch den Arm hob, um sie zu einer letzten Salve anzutreiben. Tibo stand vor dem Gemälde, als wäre es ein Spiegel, er hob einen Arm, und während er so dastand, fragte er sich: «Könnte ich? Würde ich?»
    Tibos Name war bereits in goldenen Lettern auf eine der Holzplaketten aufgemalt, die eine Chronik der Bürgermeister von Dot ergaben. «Tibo Krovic», schimmerte es vom Endeder langen Reihe, die bis zu Anker

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