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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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sagen: «Da bist du ja endlich. Seit Ewigkeiten warte ich hier auf dich. Komm rein und mach die Tür zu.» Diese Göttin, diese Göttin war Agathe. Der gute Bürgermeister Krovic warf einen Blick auf die Rückseite der Karte. Er entdeckte den üblichen Aufdruck   – Textfeld, Adressfeld – und ein graues Reckteck mit der Aufschrift: «Hier Briefmarke aufkleben». Am untersten Ende fand er zwei Zeilen: Venus vor dem Spiegel, Nationalgalerie, Trafalgar Square, London.
    Die Schlange rückte vor. Tibo reichte dem Verkäufer beide Postkarten. Sie zitterten in seinen Fingern. Sie klapperten aneinander, und das Geräusch füllte den ganzen Laden. Bürgermeister Krovic wartete nicht auf sein Wechselgeld.
    Während er beim Hinausschleichen die kleine Tüte in seinem Mantel verstaute, erschreckten ihn die Türsteher in den Messingknopflivrees. «Einen guten Tag noch, Bürgermeister Krovic.»
    «Oh. Ja. Guten Tag!», quiekte er und eilte die Treppe hinunter.
    Jetzt kam Tibo sich wirklich albern vor. Er hatte zwei Postkarten gekauft – mehr nicht. Postkarten, wie sie im anständigen Museumsladen von Dot verkauft wurden, nicht etwa jene Sorte, wie sie die Matrosen vom Basar in Tanger mitbrachten. Diese Postkarten hätte man guten Gewissens Schulkindern zeigen können. Du liebe Güte, sie wurden Schulkindern gezeigt, fast täglich. Tatsächlich kämen der Bürgermeister und der Stadtrat von Dot ihrer Pflicht gegenüber den jungen Stadtbewohnern nicht nach, wenn derlei Bilder nicht in jedem Klassenraum frei verfügbar wären. Bei jenen Postkartenhandelte es sich um eine reine und gesunde Lobpreisung der menschlichen Gestalt. Sie repräsentierten den krönenden Höhepunkt europäischer Kunst und Kulturgeschichte. Trotzdem wurde Tibo unerklärlich heiß, und schon zum zweiten Mal an diesem Tag musste er gegen große, schrecklich große, Schuldgefühle ankämpfen. Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war fast zwölf.
    Im Kaufhaus Braun waren die Kellnerinnen in den frischen, schwarzen Uniformen dabei, Untertassenstapel und Kaffeekannen abzuräumen und mit weißen Pferdehaarbürsten die letzten Gebäckkrümel von den Tischdecken zu fegen. Ganz Dot dachte ans Mittagessen, und Tibo hatte jetzt genug Freizeit genossen. Er lief am Ufer des Ampersand in Richtung Rathaus zurück, und während er unter den Ulmen entlangspazierte, fasste er sich unwillkürlich und immer wieder an die Jackentasche, wie, um sicherzustellen, dass die kleine, rechteckige, steife Pappe noch dort steckte; und zwischendurch warf er immer wieder einen Blick zurück auf den Bürgersteig, so als fürchte er, von einem hilfsbereiten Mitbürger angesprochen zu werden: «Bürgermeister Krovic, haben Sie das verloren?»
    Aber nichts dergleichen passierte, und als Tibo das Rathaus erreichte, steckten die Karten immer noch in seiner Tasche. Sie steckten immer noch in seiner Tasche, als er die grüne Marmortreppe hinaufsprang, und auch, als er sein Arbeitszimmer betrat und die Tür hinter sich zuzog – übrigens zum ersten Mal, seit er Nowak, den Schatzmeister, entlassen musste, weil der drei Typistinnen in den Hintern gekniffen hatte. Der gute Bürgermeister Krovic zog die Karten aus der Manteltasche. Ohne die Papiertüte noch einmal zu öffnen, legte er sie in seine Schreibtischschublade und schloss ab.
    Der Kaffee, den Agathe ihm am Morgen gebracht hatte, stand immer noch auf dem Schreibtisch und zitterte unter einer Milchhaut. Tibo schob die Tasse beiseite und zog das Papier aus der mit Leder gerahmten Schreibtischunterlage. Er drehte das Blatt um. Die Unterseite war sauber und unbeschriftet. Er schob das Blatt umgedreht zurück an seinen Platz und strich es glatt. Er rückte das Tintenfass und den Füllhalter und den Kalender in eine exakte, gerade Linie. Er sank zurück in seinen Sessel. Alles war in Ordnung. Er hatte aufgeräumt. Nichts stand am falschen Platz herum. Sehr gut.
    Tibo Krovic stand auf und öffnete die Tür zu Agathes Vorzimmer. Sie hob den Blick von der Schreibmaschine und lächelte ihn an. Sie hatte denselben Blick, ihr hochgestecktes Haar kräuselte sich sanft in ihrem weichen Nacken, und ihre Augen sagten: «Da bist du ja endlich. Seit Ewigkeiten warte ich hier auf dich. Komm rein und mach die Tür zu.»
    «Alles in Ordnung?», fragte sie.
    «Ja, danke. Alles bestens.»
    «Sicher?»
    «Ja. Es ist nur wegen des Kaffees, den Sie mir gebracht haben. Ich habe vergessen, ihn zu trinken. Ich werde ihn wegschütten müssen.»
    Tibo ging wieder in sein

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