Die Liebeslotterie
lachen. «Ja, ja», sagte er, «jene überkommene Vorstellung, die auf der höflichen Annahme basiert, alle Stimmen hätten dasselbe Gewicht. Aus irgendeinem Grund bleibt dieses Denken auf das Feld der Politik beschränkt, niemals kommt es in Fragen der Klempnerei, der Schiffsnavigation oder der Übersetzung aus dem Sanskrit zum Tragen.» Sein enormer Körper wurde von einem Seufzer geschüttelt. «Guter Bürgermeister Krovic. Lieber, guter Bürgermeister Krovic, Sie müssen mir versprechen, dass Sie diese Leute, die Ihnen so viel bedeuten, niemals enttäuschen werden. Die würden Sie glatt in Stücke reißen. Es erginge Ihnen wie Aktaion. Und versprechen Sie mir, dass Sie nicht zögern werden, meine Hilfe anzunehmen, falls Sie Diana im Wald überraschen.»
«So weit wird es nicht kommen», sagte Tibo, «aber ich danke Ihnen vielmals. Und falls es doch so weit kommt, stehe ich vor Ihrer Tür.»
Sie schwiegen. Tibo schlug vor, essen zu gehen.
«Nein. Nein, vielen Dank. Ich könnte jetzt unmöglich essen», sagte Yemko.
«Dann ein andermal», sagte Tibo.
«Ein andermal.» Unter großer Anstrengung streckte Yemko eine Hand aus. «Auf Wiedersehen, Bürgermeister Krovic.Wenn es Ihnen nichts ausmacht, bleibe ich noch eine Weile hier bei Diana sitzen.»
«Natürlich. Immerhin gehört sie Ihnen.» Lächelnd zog Tibo sich zurück.
Er hatte den Flur fast erreicht, als Yemko ihm nachrief: «Mein Sekretär wird Richter Gustav heute Nachmittag schreiben. Haben Sie verstanden?»
Ohne sich umzudrehen, sagte Tibo: «Die Einladung zum Mittagessen steht nach wie vor.»
Tibo durchquerte den langen, mit düsteren Landschaften behängten Korridor und folgte dem von der Museumsdirektion empfohlenen Rundgang durchs Gebäude, vorbei an dem Diorama von der Belagerung der Stadt Dot und Admiral Gromykos unvollendeter Karte des Ampersand bis in den unvermeidlichen Souvenirladen.
Beschreibungen sind in Geschichten unabdinglich, trotzdem besteht keine Notwendigkeit, diesen Ort zu beschreiben. Alle Museumsläden dieser Welt sind gleich, mit ihren Souvenirbleistiften und Souvenirradiergummis und Souveniranspitzern – jener Sorte von Gegenständen, angesichts deren jedes Kind unter normalen Umständen verächtlich eine Schnute ziehen würde, die aber nach dem Museumsbesuch kostbarer sind als das Leben selbst, heißer begehrt als Edelsteine, ersehnter als alle Schätze des Orients.
Tibo ignorierte das Angebot. Er war ein Einzelkind und niemandes Onkel. Er ging schnurstracks zu dem Drahtgestell mit farbigen Postkarten, das an der hinteren Wand hing, und zog die Karte mit Diana und Aktaion heraus. Er betrachtete sie konzentriert. Es gab keinen Zweifel, in einem gewissen Licht und aus einem gewissen Blickwinkel betrachtet, könnte ein unbefangener Beobachter vielleicht tatsächlicheine flüchtige Ähnlichkeit zu Agathe Stopak bemerken – die aber, selbstverständlich, rein äußerlich war. Tibo streckte den Arm aus, um die Karte zurückzustellen, dann besann er sich eines Besseren, suchte in seiner Manteltasche nach ein paar Münzen, reihte sich hinter einem hüpfenden Kind samt einer seufzenden Mutter in die Warteschlange ein, als ihm plötzlich eine andere Postkarte in einem anderen Ständer auffiel. Sie war anders als jene Souvenirkarten, die die im Museum ausgestellten Gemälde zeigen. Sie steckte in einer Drehsäule, darüber ein Schild mit der Aufschrift
DIE BERÜHMTESTEN GEMÄLDE DER WELT!
Tibo sah das Bild immer nur kurz, etwa einmal pro Sekunde, weil das hüpfende Kind den quietschenden Drehständer wütend zum Rotieren brachte.
«Entschuldigung», sagte er zu der seufzenden Mutter, «dürfte ich bitte?» Er streckte die Hand aus und stoppte den Ständer.
Die Frau ignorierte ihn, zerrte das Kind weg und zischte irgendetwas von Bravsein.
Tibo nahm die Karte heraus. Eine weitere Göttin, dunkelhaarig wie Agathe; ganz anders als die langweilige Blondine vom Waldsee, ebenfalls nackt, aber nicht zufällig, sondern ganz absichtlich. Auch schoss hinter ihrem erhobenen Arm kein wütender Blick hervor. Diese Göttin lag auf einer Satindecke auf einem Sofa ausgestreckt, sie schaute schläfrig aus dem Spiegel und hielt dem Betrachter ihren wie ein Cello geformten Rücken und zwei gerundete Pobacken entgegen (die von exakt derselben köstlichen Farbe waren wie türkischerHonig mit einem hauchfeinen Zuckerüberzug). Sie hob sich das Haar über die Schultern, es kräuselte sich um ihre zarten, weißen Finger, und ihr Blick schien zu
Weitere Kostenlose Bücher