Die Liebeslotterie
Bürgermeister Tibo Krovic in Yemko Guillaumes Gegenwart irgendwie unwohl; außerdem war da immer noch die Sache mit dem Richteramt. «Ich wusste gar nicht. Ich meinte. Woher wussten Sie nur, dass ich hier bin?»
Yemko zeigte mit seinem Gehstock auf die Wände. «Ich habe Ihr Spiegelbild in der Glasscheibe vor jenem unbedeutenden, kleinen Canaletto entdeckt. Ich bitte Sie – Glas! Das Gegenteil von Öl. Und Canaletto! Nichts als Schnappschüsse von der Stadtrundfahrt. Und angesichts der Hängung der Bilder sollte man den Kurator hängen.»
Bürgermeister Krovic war überzeugt, dass Yemko eine lange Zeit auf die Gelegenheit gewartet hatte, diese Äußerungenvon sich zu geben. Er schwieg. Falls Yemko darüber enttäuscht war, ließ es es sich nicht anmerken.
«Wollen Sie sich nicht zu mir setzen, Bürgermeister Krovic?», lud Yemko ihn ein. «Lassen Sie uns einen Augenblick der Stille teilen, um die Meister zu bewundern.»
Tibo schaffte es, sich auf der Kante der Lederbank niederzulassen, die Yemko annektiert hatte. Mit einem leisen Furzgeräusch rutschte er in die richtige Position. Er schwieg. Er versuchte, sich zu entspannen. Er wollte sich selbst vergessen, vergessen, wo und neben wem er gerade saß.
«Finden Sie nicht auch, dass Diana dieser Sekretärin aus Ihrem Büro unheimlich ähnelt … wie heißt sie gleich? Frau Stopak?»
«Nein, auf gar keinen Fall!», rief Tibo. Die Leute drehten sich um. Er hatte einen Tick zu entschieden verneint. Er dämpfte seine Stimme zu einem lauten Flüstern. «Und überhaupt, woher kennen Sie meine Sekretärin?»
«Bürgermeister Krovic, Sie sind in Dot eine herausragende Persönlichkeit. Jeder kennt Sie. Jeder weiß alles über Sie, und Ihr Ruhm strahlt auch auf Frau Stopak ab. Entschuldigen Sie, falls ich Ihnen zu nahe getreten bin.»
Tibo knurrte etwas Versöhnliches.
Sie verfielen wieder in Schweigen, bis Yemko nach einer angemessenen Weile mit dem Gehstock in der Luft fuchtelte, dass es pfiff, und sagte: «Ich habe mich oft gefragt, was die Leute in der ganzen Schönheit sehen. Heutzutage verstaubt die Bibel im Regal, heutzutage lernt man in der Schule nichts mehr über Homer, nichts über die großen Mythen, auf denen unsere Zivilisation basiert. Was sollen die Leute in diesen wunder-wunderschönen Bildern schon sehen? Eine schöne Frau mit Flammenhaar und einem abgeschlagenen Kopf aufeinem Tablett, eine blasse Nackte, die einen Mann und seinen Hund anfunkelt, und ihre Dienerinnen an einem Waldsee. Was soll ihnen das schon sagen?»
«Vielleicht sehen sie einfach nur die Schönheit», wagte Tibo sich vor. «Möglicherweise kann man etwas Schönes wertschätzen, ohne es zu verstehen.»
«Sie meinen, die Leute sehen Schönheit?» Yemko riss die Augenbrauen hoch. «Schönheit? Sie meinen im Ernst, die Leute sehen die junge Frau mit dem Kopf auf dem Tablett und sagen: ‹Was für ein hübsches Mädchen!›? Sie betrachten die blasse, schimmernde Haut der Diana, ohne zu ahnen, dass ihrem unheilvollen Blick ein göttlicher Fluch folgen wird, der den armen Aktaion in einen Hirsch verwandelt, auf dass seine eigenen Hunde ihn zerfleischen, und die Leute sagen sich: ‹Mein Gott, was für ein Prachtweib. Die würde ich an einem Samstagabend gern mal ins Palazz ausführen. Und was für ein hübscher Hund.› So etwas in der Art?»
«Ja», erwiderte Tibo knapp. «So etwas in der Art. Außerdem sieht der Hund wirklich hübsch aus.»
Yemko seufzte. «Lieber Bürgermeister Krovic, am meisten staune ich – und ich sage das mit aufrichtiger Sympathie und Bewunderung – über Ihren Ernst. Sie glauben im Ernst daran, diese Schönheit mit Menschen teilen zu können, die von der Schönheit keine Ahnung haben und niemals haben werden. Sie glauben es tatsächlich.»
«Sie halten mich für naiv?»
«Nein. Kein bisschen.» Yemko wedelte beschwichtigend mit seiner plumpen Hand. «Ich bewundere, dass Sie über keinerlei Zynismus verfügen. Ich wünschte, ich könnte so sein wie Sie. Ganz im Ernst. Ehrlich.»
«Hier geht es nicht um Naivität oder Zynismus. So ist dasLeben. Die Leute können Bewunderung hegen und sogar Liebe, ohne zu verstehen. Sie lieben Gott, ohne ihn verstehen zu wollen. Ich bezweifle, dass es in Dot auch nur einen Mann gibt, der seine Frau versteht, und doch lieben sie ihre Frauen.»
«Einige», bemerkte der Anwalt.
«Nein, die meisten! Außerdem halte ich es für wichtig, diese Kunstwerke zu teilen. Ich bin Demokrat.»
Darüber musste Yemko beinahe
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