Die Liebeslotterie
Arbeitszimmer und kam einen Moment später mit der Kaffeetasse zurück.
«Das kann ich für Sie erledigen», sagte Agathe.
«Nein, danke. Geht schon.» Und vorsichtig bewegte Tibo sich durch den Flur auf die marmorne Geborgenheit der Herrentoilette zu, wo er seine Tasse ausspülte und den Milchrand mit dem Daumen unter fließendem Wasser abrubbelte, während er die beruhigende, erfrischende, bleicheschwangereLuft einsog. Dem alten Peter Stavo konnte man einiges nachsagen, aber reinlich war er.
Tibos Hände waren nass. Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und strich seine Anzugweste glatt. Im Spiegel sah er wieder den Bürgermeister von Dot. Der Bürgermeister von Dot kaufte keine fragwürdigen Postkarten. Der Bürgermeister von Dot marschierte zurück durch den Flur, vorbei an dem Gemälde mit Bürgermeister Skolvigs letztem Gefecht und den Goldplaketten mit den Namen der Amtsvorgänger; aber sobald er an Frau Stopaks Schreibtisch vorbeikam und sie sah und ihr Parfum roch, war er nur noch Tibo Krovic, der verwirrt war und an Postkarten dachte. Tibo eilte in sein Büro und setzte sich.
«Möchten Sie noch irgendetwas? Einen Kaffee?», rief Agathe. «Gleich gehe ich zum Mittagessen nach draußen.»
Tibo wollte ihr gerade sagen, sie solle sich seinetwegen keine Mühe machen, als er den Kopf hob und sie vor sich entdeckte, direkt auf der anderen Schreibtischseite. «Nein, danke. Mir geht es sehr gut. Ehrlich. Danke.»
«Wie war Ihre Inspektionsrunde?»
«Sehr gut. Ebenfalls sehr gut.»
«Haben Sie irgendetwas entdeckt? Muss etwas repariert werden?»
«Einiges. Kleinigkeiten. Kein Grund zur Sorge. Vielleicht gibt es eine kleinere Aufgabe für den Stadtingenieur, außerdem werde ich vielleicht einmal mit dem Museumsdirektor die Stellenbesetzung diskutieren müssen. Wir können später darüber reden.»
«Gut», sagte Agathe. «Nach dem Mittagessen also.»
«Ja.» Tibo zögerte. «Was machen Sie? Wahrscheinlich treffen Sie sich mit Ihrem Mann?»
«Nein. Ich habe mich geärgert und habe mir aus dem Anlass eine neue Brotdose gegönnt. Ich habe ein paar leckere Brote dabei, die ich auf dem Rathausplatz essen werde, am Brunnen. Viele machen das so.»
«Ja, das ist mir auch schon aufgefallen», sagte Tibo.
Ihnen fiel nichts weiter zu sagen ein. Statt also zu rufen: «Herrje, Agathe, wir sollten von hier verschwinden, zur Fähre runterlaufen und nach Dash übersetzen, wo wir uns ein Hotelzimmer nehmen und die ganze Nacht Champagner trinken und uns lieben, bis wir nicht mehr können, und erst morgen früh kommen wir zurück», zog Tibo es vor zu schweigen.
«Na schön», sagte Agathe, «dann lasse ich Sie jetzt allein.»
«Ja. Genau. Guten Appetit», sagte Tibo und versteckte sich hinter seinem leeren Posteingangsfach, bis sie verschwunden war. Er wartete und lauschte. Er stellte sich an die Tür, die zum Vorzimmer führte. Sie war definitiv gegangen. Tibo warf durch den Türspalt einen Blick auf Agathes Schreibtisch. Sie war weg.
Tibo verließ das Büro und trat von dem dicken, blauen, städtischen Teppichboden auf den kalten, gefliesten Korridor hinaus, der zur Hintertreppe führte. Wenn er den Haupteingang nahm und an Peter Stavos Glaskasten vorbeiging, käme er auf den Rathausplatz. Stattdessen stieg Tibo die Treppe hinauf, vorbei am Bauamt, den Büros von Stadtingenieur und Stadtschreiber und an der Vergabestelle für Schanklizenzen, er stieg drei Stockwerke hoch, bis die Treppe sich verengte und vor einer unbeschrifteten Tür endete.
Tibo zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und suchte ihn ab. Er schloss die Tür auf und betrat einen kleinen Raum, dessen Boden von einer dicken Staubschicht bedeckt war. An den Wänden standen Leitern und Eimer, graue Laken verhülltenundefinierbare Objekte, und vier Holzstufen führten zu einer weiteren kleinen Tür hoch. Tibo stieg hinauf und trat in den Himmel hinaus. Er war von Blau umgeben, so wie meine einsame Statue auf der höchsten Kathedralenspitze; ringsum nichts als Blau, und nur auf der Höhe des Horizonts war ein dunkler Fleck zu erkennen, die heimkehrende Fähre vielleicht. Blau.
Tibo schaute auf den Rathausplatz hinunter, auf die Tauben, die Passanten und auf die Angestellten des Rathauses, die auf dem Weg zum Pastetenladen waren. Tibo suchte nach Agathe, nach ihrer Silhouette, ihrem Gang. Da war sie, gerade nahm sie am Brunnenrand Platz; sie lehnte sich zurück, legte den Kopf in den Nacken und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Handtsche und
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