Die Liebeslotterie
einem Aufbau aus vergilbtem, vertrocknetem Gras erhob, das aufgerissene Maul eine Höhle aus spitzen Zähnen und rotem Tod. Tibo erinnerte sich, wie er den Löwen zum ersten Mal gesehen hatte, wie er um die Ecke gebogen war und Todesangst sein Herz ergriffen hatte. Er konnte sich selbst deutlich sehen, einen kleinen, nackten, unbehaarten Affen, der in der Savanne aus braunem Linoleum den Tod aus einem Glaskasten auf sich zuspringen sah und dem der Limettenlolli, ein leuchtend grüner Planet an einem Stäbchen, aus der starren Hand rutschte und auf dem Boden zerschellte.
Als Tibo jetzt die Säulenhalle des Museums durchquerte, entdeckte er in einer dunklen Ecke einen kleinen Jungen in einem blauen Mantel und eine Mutter, die einen Korb mit Broten trug, die man später im Park verzehren würde. «Wem gehören die Bilder, Mama?»
«Sie gehören allen. Du kannst herkommen und sie anschauen, wann immer du willst. Sie gehören dir.»
Welche Freude. Tibo hatte es nie vergessen. «Mir? Sie gehören mir?»
Tibo warf einen Blick hinter die letzte Säule. Der kleine Junge und seine Mutter waren verschwunden.
Unter den Augen längst vergessener Dottianer, deren Portraits in die ungeputzten Bleiglasfenster eingelassen waren, stieg der gute Bürgermeister Krovic die flachen, gewundenen Treppenstufen in die Galerie hinauf. Den Teppich fand er sehr hübsch. Kein bisschen kommunal, dachte er. Wirkt edel. Kosmopolitisch. Vielleicht brauchen wir die Türöffner doch.
Im Obergeschoss des städtischen Museums von Dot hängen langweilige Landschaften, kitschige, vor Farbe triefende,in wuchtige Rahmen gebannte Ölgemälde mit glotzenden Kühen, die knietief in irgendwelchen Seen stehen, oder von Schafen, die schlaftrunken durch undurchdringliche Nebelbänke torkeln, dazu ein paar sehr alte, religiöse Werke, mir gewidmete Altartafeln und Ähnliches. Tibo ignorierte die Bilder und durchquerte die Galerie zügigen Schritts.
Die Waldheim-Kaffeebechersammlung klirrte in ihrem Schaukasten, als Tibo vorbeilief. Er hörte es nicht. Er hatte etwas entdeckt. Er hatte nur noch Augen für das riesige Gemälde am hinteren Ende der Galerie. Er eilte darauf zu. Er wollte sich daraufstürzen und es umarmen wie ein Mann, der viele Jahre im tiefsten, dunkelsten Kerker verbracht hat und plötzlich in die Arme der Geliebten entlassen wird. Das Bild war so schön, dass Tibo zu atmen vergaß, es war – zumindest in Tibos Augen – unbeschreiblich. Was in einer Geschichte natürlich nicht erlaubt ist.
In einer Geschichte sind Beschreibungen zwingend. Man stelle sich also ein enormes, quasi lebensgroßes Portrait vor. Man stelle sich eine sommerliche Waldwiese vor, die der gutaussehende junge Jägersmann in der unteren linken Bildecke gerade im Begriff ist zu betreten. Man stelle sich die angeleinten Jagdhunde vor und einen Köcher voller Pfeile, den er auf dem Rücken trägt. Man stelle sich die hellen Sonnenstrahlen vor, die wie vanillefarbige Kleckse durch das Blätterdach tropfen. Man stelle sich die Hitze vor und den Durst des Jägers und seiner Hunde. Man stelle sich vor, wie sehr sie sich nach dem kristallklaren Wasser gesehnt haben. Man stelle sich die Überraschung des Jägers vor, der die Zweige beiseitebiegt und eine badende Göttin entdeckt – weiß und fleischig, mit drallen, milchigen Schenkeln, mit Schultern wie Elfenbein und rosigen Brüsten. Man stelle sich die Dienerinnenvor, Nixen oder Dryaden oder Nymphen oder so etwas in der Art, in allen Farben und Größen und in verschiedenen Stadien der Nacktheit oder in tropfnasser Transparenz. Man stelle sich den dicken, gemusterten Samt vor, der über die Felsen ausgelegt wurde, und Leopardenhäute, so fein und weich, dass sie in der Brise schaukeln. Man stelle sich den eiskalten Blick der erbosten Göttin vor – bei der Toilette gestört, erniedrigt, vergewaltigt. Man stelle sich ihr Entsetzen vor! Das war es, was Tibo sah. Tibo hätte den ganzen Tag vor dem Bild verbringen und seine Inspektionstour zur Gänze jenem einen Schatz widmen können; aber als ihm wieder einfiel zu atmen, bemerkte er zugleich auch den breiten Rücken von Yemko Guillaume, der die Bank vor dem Gemälde in ihrer gesamten Breite einnahm. Tibo beschloss, leise davonzuschleichen. Er würde später wiederkommen. Doch gerade, als er sich umdrehen wollte, sagte Yemko: «Guten Morgen, Bürgermeister Krovic.»
«Oh. Äh. Ja … Guten Morgen, Herr Guillaume.» Trotz des gemeinsamen Mittagessens am Vortag fühlte sich
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