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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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streckte seine Hand nach ihrer aus. Der Tisch war sehr klein. Sie saßen nah beieinander, und für einige Sekundenlagen ihre Arme nebeneinander, fast berührten Tibos Fingerspitzen ihre Ellenbeuge, während ihre Finger den dicken Stoff seines Tweedsakkos streiften, und dann lief plötzlich eine Art Spannung durch ihrer beider Arme, und ihre Hände trafen und drückten sich kurz aneinander, Finger an Finger; es war wie zur Versicherung, denn Tibos Berührung wollte sagen: «Ich auch. Auch ich kenne die Symptome.»
    Darüber hinaus handelte es sich um eine Berührung   – Agathe wurde zum ersten Mal liebevoll von einem Mann berührt seit   … nun ja, seit langer Zeit, und es fühlte sich gut an. Eine Frau wie Agathe brauchte Berührungen. Sie trank den Moment in sich hinein, um ihn einzulagern. Die Freude darüber sank in sie ein wie Regentropfen in ein ausgedörrtes Feld, und tief in ihrem Innern begann etwas längst Totgeglaubtes anzuschwellen und zu erblühen.
    «Sie und Stopak   …», fragte Tibo, «Sie sind nicht glücklich?»
    «Nein. Schon seit langer Zeit nicht mehr.»
    «Das Baby?»
    «Ja, ich glaube, mit ihr hat alles angefangen. Wahrscheinlich. Das kleine Ding. Das Seelchen. Gott hab sie selig. Es vergeht kein Tag   … Sie wissen schon.»
    «Ich weiß. Ich weiß. Sie werden sie wiedersehen.»
    «Ja», sagte Agathe, «ja.» Das leere Ja der Hinterbliebenen. Plötzlich lief Agathes Nase, und sie schniefte – lauter als beabsichtigt. «Schon seit langer Zeit nicht mehr», seufzte sie.
    «Möchten Sie   …» Tibo hatte Schwierigkeiten, den Satz zu Ende zu bringen, aber anscheinend war es egal. Agathe verstand ihn auch so.
    «Nein.» Sie schüttelte den Kopf. «Meine Großmutter hat immer gesagt: ‹Geteiltes Leid ist doppeltes Leid.› Ich dankeIhnen, Bürgermeister Krovic, aber das würde nicht helfen. Da kann man nichts machen, und was man nicht ändern kann, muss man aushalten.»
    «Sie sind sehr tapfer», sagte Tibo.
    «Ich bin alles andere als tapfer. Manchmal würde ich am liebsten weglaufen. Ich habe von der dalmatischen Küste gelesen. Dort soll es warm sein.»
    «Aber hier ist es auch warm», warf Tibo ein, der sich nicht vorstellen konnte, dass sich irgendjemand, und schon gar nicht Frau Agathe Stopak, nach einem Leben außerhalb von Dot sehnen könnte. Dots Fluss war wirklich hübsch, es gab hübsche Enten, Strände, historische Bauten – alles aufgeführt in den Prospekten, die auf dem Empfangstresen des Rathauses lagen.
    Daran schien Agathe nicht gedacht zu haben. «Jetzt ist es hier warm», räumte sie ein, «heute. Aber das wird nicht so bleiben. Alles verändert sich – so viel habe ich gelernt   –, und in kurzer Zeit wird es wieder eiskalt sein. In den Straßen liegt Schnee, und mittags wird es schon wieder dunkel.»
    «Na ja», sagte Tibo.
    «Na ja, fast. Und das geht monatelang so. An der dalmatischen Küste bleibt es das ganze Jahr über warm, außerdem gibt es dort Burgen und Felsstrände und wundervolle alte Städte, die die Venezianer früher angesteuert haben.»
    Die Venezianer   … In Gedanken kehrte Tibo in die Ausstellung im städtischen Kunstmuseum zurück, zu der schönen nackten Diana und dem Waldsee, dessen Oberfläche sich zu ihren Füßen kräuselte.
    «Manchmal», sagte Agathe, «kaufe ich ein Lotterielos und trage die dalmatische Küste den ganzen Monat in meiner Handtasche mit mir herum. Ein eigenes kleines Haus amMeer, direkt an der dalmatischen Küste. Für mich. Nicht für Stopak. Für mich und einen guten Mann, der mich liebt, mir Homer vorliest und mir Wein und frisches Brot bringt und Oliven, während ich ein kühles Bad nehme.»
    Oh mein Gott, dachte Tibo Krovic. Oh mein Gott. Oh heilige Walpurnia. Frau Agathe Stopak in einem kühlen Bad. Oh mein Gott. Plötzlich fielen ihm die Postkarten wieder ein, die in einer Papiertüte ganz hinten in seiner Schreibtischschublade lagen. Oh mein Gott, oh, heilige Walpurnia.
    «Sie mögen Oliven?», quiekte er.
    «Wenn ich in der Lotterie gewinne, werde ich lernen, Oliven zu lieben. Und Homer.»
    «Ich könnte Ihnen Oliven bringen.»
    Agathe lachte. Der Moment war geeignet, um ihre Hand aus seiner zu ziehen, jetzt, da sie lächelte und die Geste ganz beiläufig erschien, so, wie es vorher beiläufig erschienen war, sich zu berühren.
    «Wirklich», insistierte Tibo, «ich würde Ihnen Oliven bringen.»
    «Sie sind ein guter Mann, Bürgermeister Krovic», sagte sie.
    «Und ich mag Homer. Anscheinend wäre ich der

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