Die Liebeslotterie
vor kurzer Zeit von der Erinnerung das kleine Paket aus dem Kaufhaus Braun geprägt war. Nun betrachtete Agathe ihre Brotdose, als sei sie aus Mondstaub gemacht – ein merkwürdiges Objekt aus einer fremden Welt, wo die Männer gut waren und sich ins Zeug legten und sich dafür, und das war das Wichtigste, nicht einmal schämten.
«Er scheint tatsächlich der Richtige zu sein», flüsterte Agathe zu sich selbst. «Ein guter Mann mit einer Vorliebe für Homer. Er scheint der Richtige zu sein.»
Frau Agathe Stopak drehte sich auf ihrem Schreibtischplatz um und beobachtete die Tür zum Arbeitszimmer des Bürgermeisters. Sie hoffte, er würde herauskommen, um nach Büroklammern oder Kaffee zu fragen oder ihr etwas zu diktieren. Um fünf räumte sie ihren Schreibtisch auf, schloss ihre Schubladen ab und verließ das Büro. Bürgermeister Tibo Krovic saß auf der anderen Seite der Tür und hörte sie gehen. Er hörte, wie sie Papiere sortierte, wie sie Schubladen zudrückte und abschloss, wie sie leise den Raum durchquerte; er stellte sich das vollkommene, rosafarbene «O» ihrer Lippen vor, als sie das Flämmchen unter der Kaffeekanne ausblies; er fühlte sie gehen, schnüffelte der Duftwolke aus Parfum nach, lauschte angestrengt auf ihr «Guten Abend» und hoffte, es würde nichtertönen, denn er traute seiner eigenen Stimme nicht mehr. Er flüsterte ein leises «Guten Abend» in ihre Richtung und blieb reglos sitzen wie ein Jäger auf der Pirsch, während auf der Uhr zehn quälende Minuten davontickten; er wollte bloß sicher sein, dass sie tatsächlich gegangen wäre, dass sie nicht wiederkäme.
Und während all der Minuten, die er dasaß, wartete und beobachtete, stand Frau Agathe Stopak auf der Treppe, eine Hand am Geländer und angestrengt atmend, denn auf halbem Weg war ihr eingefallen, dass sie zum ersten Mal überhaupt vergessen hatte, dem Bürgermeister einen guten Abend zu wünschen. Sie wusste selbst, warum. Sie war nicht in der Lage gewesen. Als sie dort auf der grünen Marmortreppe stand, schoss ein seltsames, warmes Gefühl in ihr auf, und sie stürzte davon, um ihm zu entkommen.
Oben in seinem Arbeitszimmer griff Bürgermeister Tibo Krovic zum Füller und machte sich an die Arbeit, die er am Nachmittag hätte erledigen müssen. Er hatte Verträge zu bewilligen, Briefe zu unterschreiben, Anträge für Schanklizenzen und geplante Bauvorhaben zu «überfliegen». Und am Ende, als die Glocken der Kathedrale sieben schlugen, verließ Tibo sein Arbeitszimmer, stieg die grüne Marmortreppe hinunter und lief über den Rathausplatz und die Weiße Brücke. Die Enten, die auf dem Ampersand paddelten, grüßten ihn mit einem höflichen Quaken. Die Fledermäuse, die unter den Brückenbögen siedelten, zogen auf der abendlichen Mottenjagd weite Flatterbögen. Alles war verändert. Die Farben waren ein bisschen intensiver, das Vogelgezwitscher ein bisschen lieblicher, und jedes einzelne «Quak» jeder einzelnen Ente auf dem Ampersand klang ein bisschen quakiger und fröhlicher und frecher. Während er durch die Schlossstraße lief,versuchte Tibo, sein Spiegelbild in den Schaufensterscheiben zu sehen. Nicht übel, dachte er. Groß. Nicht dick. Nicht gerade schlank, aber auf keinen Fall zu dick für einen, der seit zwanzig Jahren Bürgermeister ist. Er beschloss, einen neuen Anzug zu kaufen. Zwei neue Anzüge. Und passende Schuhe. Der Bürgermeister einer Stadt wie Dot sollte angemessen gekleidet sein. Er hatte es verdient. Dot hatte es verdient.
Und während Tibo erhobenen Hauptes durch die Schlossstraße schritt und seinen Anblick in den Schaufensterscheiben bewunderte, stand Frau Agathe Stopak in ihrer Wohnung in der Aleksanderstraße am Herd und rührte mit einem Holzlöffel in Rühreiern mit Speck, die in der neuen, glänzenden Pfanne vor sich hin brutzelten. Sie schaute aus dem Küchenfenster in die Dämmerung hinaus und wunderte sich über das unbekannte Gefühl, das sie auf der Rathaustreppe überfallen und bis in die Tram und nach Hause verfolgt hatte und das sich ihr nun um die Schultern legte und ihr über den Rücken kroch.
«Gehst du heute Abend aus?», fragte sie, als sie den Teller vor Stopak und seine Abendzeitung stellte.
«Ja.»
«Mit Hektor?»
«Ja. Was dagegen?»
«Wann kommt er?»
«Um acht. Vielleicht früher.»
«Dann iss jetzt.» Agathe stellte sich vor, wie sie ein langes, heißes Bad nehmen würde.
Ein paar Minuten später stand Frau Agathe Stopak an der Spüle, ließ das schmutzige
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