Die Liebeslotterie
dreht sich um, weil sie ein Brot aus der Dose nehmen möchte, sämtliche Gelenke sind in Bewegung, Taille und Schultern und Ellenbogen und Hand- und Fingergelenke, Kurven, Linien und Winkel, bis in die Fingerspitzen, die jetzt, für einen Augenblick nur, den Deckel der Brotdose streifen, die verrutscht und zu kippen beginnt. Und dies ist der Moment, der ewig dauern wird. Dies ist der Moment, in dem der gute Tibo Krovic sich außerhalb der Zeit wiederfindet; er hat sich so hoch über das Ticken der Uhr erhoben wie über den Rathausplatz. Denn Frau Stopaks Brotdose bewegt sich. Sie rutscht vom Brunnenrand. Sie rutscht so träge ins Wasser wie Zuckersirup in einer winterlichen Küche, und Tibo rennt los. Durch die Tür neben dem Flaggenmast, mit einem Satz über die vier Treppenstufen und dann durch den kleinen, weißgetünchten Raum mit den Eimern und den Leitern, der Schutzplane und den Maulwurfshügeln aus abgeplatztem Putz. Er kämpft mit dem Schloss und jagt die Treppe hinunter, während die Tür hinter ihm krachend zufällt, er stürzt und springt und fällt drei Stockwerke tief wie ein Felsbrocken, vorbei an der Ausgabestelle für Schanklizenzen, am Stadtschreiber und Stadtingenieur, vorbei am Planungsamt und durch den gefliesten Korridor vor dem Bürgermeisterbüro, durch die Glastür und, noch bevor die in ihren Angeln zurückschwingt, über den dicken, blauen Teppich und die grüne Marmortreppe hinunter, die zum Haupteingang und auf den Rathausplatz führt, wo sich Frau Stopak angewidert umgedreht hat, um ihre triefende Brotdose aus dem Wasser zu fischen.
Der gute Bürgermeister Krovic hält einen Augenblick inne, bevor er ins Sonnenlicht hinaustritt. Er zieht sich die Westeglatt, zupft an seinen Manschetten, fährt sich mit den Fingern durchs Haar, atmet einmal durch den Mund aus und pfeifend durch die Nase wieder ein, bis seine Lunge gefüllt und sein Atem ruhiger ist. Und dann sagt Tibo: «Es wäre mir eine Ehre, Sie zum Mittagessen einzuladen», und er verspürt den unerklärlichen Impuls – Gott weiß, warum –, wie ein Klappmesser zusammenzuschnellen, sich so tief zu verbeugen wie ein Husar in der Wiener Oper.
So lädt man keine Dame ein!, dachte er bei sich. Wenigstens keine verheiratete Dame – die dazu noch eine Angestellte ist! Du lieber Gott, Krovic, was hast du dir dabei gedacht?
Das große Herz rutschte dem guten Bürgermeister Krovic in die Hose, denn ihm wurde klar, dass er einen Fehler begangen hatte. Sie würde ihn abweisen, auslachen, ihn mitten auf dem Rathausplatz bloßstellen und mit dem Finger auf ihn zeigen, bis jedermann ihn auslachen würde, und das wäre das Ende – er würde zurücktreten müssen. Man würde ihn aus der Stadt jagen. Sein lebenslanger Dienst an der Stadt würde in Schimpf und Schande enden, wenn sie ihn gleich als Perversen und Schürzenjäger entlarvte. Tat sie aber nicht. Frau Agathe Stopak drehte sich zu ihm um, blinzelte in die Sonne, kicherte wie ein Schulmädchen und sagte: «Es wäre mir eine Ehre, die Einladung anzunehmen.» Und dann machte sie einen Knicks – eine Geste, die nicht weniger albern und übertrieben war als die seine, die jedoch mit einem Zwinkern ausgeführt wurde, das selbst den ungeschicktesten Verehrer entspannte. Agathe warf die tropfende Emailledose in den Brunnen zurück, als sei sie ihr egal, als sei sie nicht mehr als eine mit nassem Brot gefüllte Blechbüchse, und dann hakte sie sich bei Tibo unter und schmiegte sich an ihn. Sie verließen den Platz und spazierten über die Weiße Brücke, und Tibo schmolz dahin.
Aber auch in Agathe hatte eine Veränderung stattgefunden. Während des kurzen Moments, als sie Tibo erblickt und seinen Arm genommen hatte, war etwas passiert. Ihre Traurigkeit hob sich. Plötzlich fühlte sie sich wieder begehrt und gewollt.
Ein Mann, und nicht irgendeiner, nein, sondern der Bürgermeister von Dot, Bürgermeister Tibo Krovic persönlich, hatte sich die Mühe gemacht, sie zum Mittagessen einzuladen. Warum auch nicht? Warum nicht? Sie war eine gutaussehende Frau und angenehme Gesellschafterin, warum also nicht? Was war schon dabei? Gar nichts. Niemand könnte Einwände erheben oder Bedenken haben. Trotzdem verspürte Agathe einen merkwürdigen Nervenkitzel. Sie fühlte sich beinahe konkubinisch. Nicht ehefraulich oder sekretärinnenhaft, sondern konkubinisch und, um ganz ehrlich zu sein, sogar ein bisschen verrucht und vor allem: anders.
Sie drückte sich eng an Tibo, als sie zusammen durch
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