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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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gerundeten Schubladen und beugte sich entspannt vor, wobei ihr Hinterteil sich ein wenig öffnete, ebenso reibungslos wie die Schublade, in der sie ihre Unterwäsche und ganz hinten auch die glänzende, rote Schachtel aus dem Kaufhaus Braun aufbewahrte.
    Sie stand da wie eine Ebenholzschnitzerei der Pandora und betrachtete die Schachtel in ihrer Hand, die wieder verschlossen, wieder verschnürt und weggeräumt worden war, als habe niemand je hineingeschaut. Sie zögerte. «Nein, nicht für ihn», sagte sie zu ihrem Spiegelbild, «für mich. Für mich allein.» Diesmal zerkleinerte Agathe die Schachtel nach dem Öffnen, sie zerriss den Karton, zerfetzte das Seidenpapier und zerrte an der Kordel. Innerhalb von Sekunden verwandelte sich die Schachtel von einer Reliquie des Märtyrertums in einen Haufen Müll, auf den Boden geworfen und mit einem lackierten Zeh fortgestoßen. Eigentlich war Agathe eine überaus sittsame Frau, in jeder Hinsicht, aber nun fand sie sich vor dem Spiegel der Frisierkommode wieder und schaute sich selbst beim Anziehen der winzigen, durchscheinenden Wäschestückezu. Sie konnte nicht anders, als sich selbst schön, geradezu begehrenswert, zu finden. Sie erlaubte ihren Fingern, die Kurven abzufahren, sie schaute ihnen sogar dabei zu, und als sie ihren Blick wieder in den Spiegel richtete, entdeckte sie zu ihrer eigenen Überraschung eine Frau, zwischen deren Lippen eine rosige Zungenspitze hervorlugte. Gierig sah sie aus. Agathe errötete. Überstürzt zog sie sich etwas an. Eine schlichte, weiße Bluse, einen dicken, dunkelgrauen Rock, der möglicherweise ein wenig zu figurbetont war und an den Hüften leicht spannte und unter dem sich die Oberschenkel abzeichneten; trotzdem war er dick und sittsam, es handelte sich um die Sorte Rock, wie ihn die Sekretärin des Bürgermeisters tragen konnte, ohne auch nur das leiseste Getuschel zu provozieren. Auch wenn er beim Gehen einen gewissen Hüftschwung erzwang. Agathe strich sich den Rock am Po mit beiden Handflächen glatt, und ja, sie konnte die besondere Wäsche ansatzweise erfühlen. Gerade noch.
    Als Agathe an jenem Morgen die Wohnung verließ – wobei sie sich die Zeit nahm, Stopak im Vorbeigehen an der Schulter zu rütteln und einen Kaffeebecher neben seiner Hand abzustellen   –, war sie voller Energie. Als der Tramschaffner sie mit einem jener Blicke ansah, die sagen: «Ich versuche angestrengt, nicht zu pfeifen», lächelte sie ihn an und ließ ihre Finger, als sie ihm das Fahrgeld reichte, unnötig lange in seiner Hand verweilen. Das seltsame Gefühl vom Vorabend war immer noch da – jene Atemlosigkeit, die Aufregung, die allem ringsum einen neuen Beigeschmack verlieh. Es war immer noch da. Es war immer noch da, als Agathe durch die Schlossstraße lief und sich in den Schaufenstern sah. Sie war nicht spät dran, trotzdem musste sie das Verlangen niederkämpfen, loszurennen. An der Ecke sah sie Mamma Cesare die Tischehinter dem großen Erkerfenster des Goldenen Engel abwischen. Sie blieb wie angewurzelt stehen und klopfte gegen die Fensterscheibe, bis die alte Frau den Kopf hob und sie anlächelte.
    «Wie hübsch du aussiehst», formten ihre Lippen stumm.
    Agathe pantomimte ein «Danke» zurück, warf der alten Frau einen Kuss zu und eilte weiter. Sie flog durch die Menschenmenge wie eine Libelle über einen Teich, sie war ein helles Aufblitzen mit ihrem flaschengrünen Mantel, dem glänzenden Haar, den blitzsauberen Schuhen und der blauen Emailledose, die in ihrer Hand schimmerte.
    Auch Tibo war wie elektrisiert. Er war zu früh aufgewacht und, ohne zu frühstücken, ins Rathaus geeilt. Noch bevor die anderen zur Arbeit erschienen, legte er einen Umschlag auf Agathe Stopaks Schreibtisch, genau in die Mitte, damit sie ihn gleich bei der Ankunft entdeckte. Tibo zog seinen Füller heraus, schrieb «Frau Stopak» darauf und unterstrich die Wörter. Er wollte, dass der Brief flott und offiziell und geschäftsmäßig wirkte, ohne unfreundlich zu sein, wie ein Brief eben, den er jedem beliebigen seiner Angestellten schreiben würde. Aber die Liebe hatte alles verändert, sogar Tibos Handschrift. Tibo beschlich der Verdacht, jeder, der den Umschlag zu sehen bekäme und die zwei Wörter entdeckte, müsste sogleich wissen, dass hier ein Mann an seine Geliebte geschrieben hatte. Es war, als würde jeder Brief, den er jemals geschrieben hatte, laut auf dem Rathausplatz vorgelesen, als hinge am Rathauseingang die Inventurliste seiner

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