Die Liebeslotterie
Inneren einer Muschel. Im Vorbeigehen lehnte Tibo sich über den Schreibtisch und atmete ihren Duft ein. «Für Sie», sagte er.
«Oh, vielen Dank», sagte Agathe. «Seltsam, dass er nicht mit der übrigen Post gekommen ist.»
«Es liegt wohl daran, dass ich ihn geschrieben habe.»
Agathe betrachtete den Brief und musste lächeln, weil sie die Handschrift des Bürgermeisters erkannte. Sie riss den Umschlag auf. Darin steckten zehn Lotterielose und ein Zettel, aber als sie den Kopf hob und Tibo danken wollte, war der schon auf dem Weg in sein Zimmer. Er blieb nicht stehen und schaute auch nicht zurück, bis er die sichere Tür hinter sich zugezogen hatte. Dann ließ er sich, die Arme im Rücken, gegen das Holz sinken und schnappte möglichst leise nach Luft, bis das Hämmern in seiner Brust nachließ. «Geschafft», sagte er. «War doch ganz leicht. Bloß ein Brief. Mehr nicht. Ist ja nichts dabei, eigentlich.»
Er zog sein Sakko aus und setzte sich an den Schreibtisch, um zu arbeiten, während Agathe nur wenige Schritte entfernt an ihrem Schreibtisch saß, abwechselnd auf den Brief und die Zwischentür starrte und in glücklichem Unglauben den Kopf schüttelte. «Lotterielose», flüsterte sie, «Lotterielose – zehn Stück. Er wünscht mir das kleine Häuschen an der dalmatischen Küste. Lotterielose.»
Sie nahm die Lose heraus und breitete sie vor sich aus, als ein gefalteter Zettel aus dem Umschlag fiel. «Liebe Agathe», stand darauf, nicht etwa: «Frau Stopak». Das fiel ihr gleich auf. «Ich hoffe, unser kleines Mittagessen gestern hat Ihnen ebenso gut gefallen wie mir. Es wäre mir eine große Freude, Sie auch heute wieder einladen zu dürfen.» Darunter die Unterschrift: «Tibo».
Zwanzig Minuten später, die die längsten zwanzig Minuten in Tibos Leben waren, stand Agathe mit einer Kaffeetasse und zwei Ingwerkeksen auf der Untertasse vor seiner Tür. Mit der freien Hand, in der ein zusammengefalteter Zettel mit Briefkopf der Stadt Dot klemmte, klopfte sie an, und ohne die Antwort abzuwarten, trat sie ein wie Venus in den Olymp, nachdem sie den lieben langen Nachmittag die Schäfer in den Liebeswahn getrieben hat. Bei ihrer Ankunft verzogen sich alle grauen Wolken. Das Sonnenlicht strömte herein und küsste ihre makellosen Zehen, und Tibo hob den Kopf von den Akten und sah sie an, wie ein Mann auf dem Elektrischen Stuhl den Botenjungen ansieht, der unerwartet und in letzter Minute mit einem Telegramm hereinkommt.
Agathe beugte sich vor und stellte die Tasse vorsichtig auf Tibos Schreibtischunterlage ab. Der gute Bürgermeister Krovic bemühte sich heldenhaft, nicht in ihr Dekolleté zu schauen, das sich ihm einladend darbot. Er redete sich ein, er habe dieunmöglich winzige, anbetungswürdig durchscheinende Wäsche nicht gesehen, die er ganz zweifellos dort gesehen hatte, und er zwang sich, ihr direkt in die Augen zu schauen, als sie sagte: «Für Sie ist ebenfalls etwas gekommen, Herr Bürgermeister.» Sie reichte ihm den gefalteten Zettel und wackelte hinaus.
Tibo lehnte sich in seinem Sessel zurück, faltete den Zettel auf und las. Da stand: «Es wäre mir ein Vergnügen, Sie zum Mittagessen zu begleiten.» In seiner Überraschung war ihm entgangen, dass Agathe ein «Danke» geflüstert hatte, als sie am Stadtwappen vorbeigegangen war.
WÄHREND DES restlichen Vormittags waren beide zu verschämt, um miteinander zu sprechen. Ein – wie auch immer geartetes – Abkommen war getroffen worden, und sie schienen sich einig zu sein, dass es nichts mehr zu sagen gab, bis die Glocken der Kathedrale die Mittagspause einläuteten.
Agathes Schreibmaschine klapperte, ihr Telefon klingelte, die Kaffeekanne wurde geleert und wieder gefüllt, bis sich die Tauben wie ein Schleier von der Kathedrale hoben und einige Sekunden später das polierte, weiche «Gong» der Glocke herüberschallte. Tibo kam aus seinem Arbeitszimmer. «Klingt nach ein Uhr», sagte er. «Wie wäre es mit …?» Beinahe hätte er gesagt: «mit mir», aber nein, er sagte es nicht.
«Ich bin fertig», sagte Agathe. «Ich hole nur schnell meinen Mantel.»
Tibo stand bereits neben dem Hutständer und wartete, er hatte ihren Mantel in der Hand und hielt ihn Agathe entgegen; sie bräuchte nur noch hineinzuschlüpfen. Als sie den Mantel zurechtschüttelte, stieg ihm ein Hauch von «Tahiti» in die Nase.
«Heute ist es kühler», sagte sie.
«Ja. Viel kühler. Ja.»
Und das war einer jener beängstigenden Momente, in denen beide
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