Die Liebeslotterie
fürchteten, das Mittagessen könne sich genau so abspielen – eine Abfolge alberner, dummer Bemerkungen über das Wetter – ein beschämtes Scharren mit den Füßen, wo siedoch auf einen Walzer gehofft hatten – eine ganze, peinliche Stunde, aus der es zu ihrer Schande keinen Ausweg gab.
Agathe nahm Tibos Arm, oder er bot ihn ihr an; letztendlich spielte es keine Rolle, denn beide wollten es so.
«Sie haben Lotterielose für mich gekauft», sagte Agathe, als sie die Brücke überquerten.
«Ja, das habe ich», sagte Tibo.
«Das war sehr nett von Ihnen. Vielen Dank.»
«Das war doch nur eine Kleinigkeit. Wirklich.»
«Warum?»
«Warum was?»
«Warum haben Sie mir Lotterielose gekauft?»
«Sie spielen doch in der Lotterie? Gestern, ich meine mich zu erinnern, haben Sie das doch gesagt. Ich dachte, Sie hätten gesagt, Sie spielen jeden Monat.»
«Ja, das stimmt. Es war sehr nett von Ihnen, daran zu denken.»
«Ich erinnere mich», sagte Tibo. «Sie spielen in der Lotterie, und wenn Sie gewinnen, werden Sie sich eine Villa an der dalmatischen Küste kaufen.»
Dafür hätte Agathe ihn am liebsten umarmt, aber im selben Moment warf er ihr einen nüchternen, geschäftsmäßigen «Wir sind da»-Blick zu und stieß die breite, vergoldete Tür zum Goldenen Engel auf.
Diesmal war der Impuls des Wiedererkennens, der durch den Raum ging, stark genug, um Cesares dunkle, italienische Augenbrauen quasi an die Decke schnellen zu lassen. Der verehrte Herr Bürgermeister! Zweimal täglich, und das an zwei aufeinanderfolgenen Tagen! Mit derselben Frau! An beiden Tagen! Das Erschrecken über ihre Ankunft versetzte sämtliche Kellner in nervöse Zuckungen. Aus vier Richtungen undvier Ecken kamen vier davon gleichzeitig auf den Zehenballen auf sie zugestürzt, so leichtfüßig und behende wie Gigolos in einem argentinischen Tangolokal. In der Vorwärtsbewegung ließ ein jeder von ihnen den Blick instinktiv durch den Raum gleiten und wurde der Kollegen gewahr, die inmitten der Tangopose innehielten; sie sanken auf die Hacken, erhoben sich zum nächsten Schritt, warfen einen hilflosen Blick zu Cesare, der ungerührt hinter dem Tresen stand, mit den Augen rollte und verstohlen diese und dann jene Augenbraue hob, sodass die Kellner abwechselnd ins Stocken gerieten und heillos verwirrt waren.
Es blieb Mamma Cesare überlassen, die Ehre des Goldenen Engel zu retten. Sie war vorgetreten, und von irgendwo unterhalb von Tibos Brust tönte es: «Tisch für zwei? Hier entlang, bitte.» Die kleine, braune Mamma Cesare watschelte vor den beiden her wie ein magischer Pilz, der zwei verirrte Kinder durch einen Märchenwald führt.
«Das ist ein netter Tisch», sagte sie und nahm damit jede Diskussion vorweg. «Sie möchten die Karte, oder Sie vertrauen mir, zu bringen, was gut ist?»
Tibo setzte sich und lächelte Agathe über den Tisch hinweg an. «Bringen Sie einfach, was gut ist», sagte er.
«Schön», sagte Mamma Cesare. «Ihr zwei unterhaltet euch.» Und damit verschwand sie.
«Worüber sollen wir uns unterhalten?», fragte Tibo.
«Lotterielose – ich finde, wir sollten uns über Lotterielose unterhalten. Sie wollten mir gerade verraten, warum Sie mir welche gekauft haben.»
Verlegen rieb Tibo sich übers Gesicht. «Ich habe Sie hoffentlich nicht verärgert damit. Ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten.»
«Seien Sie nicht albern. Sie haben mich kein bisschen verärgert. Ist schon gut. Das war ein hübsches Geschenk. Ist ja ganz egal, warum Sie sie gekauft haben.» Agathe starrte auf die Tischdecke und fing an, das Webmuster mit dem Fingernagel abzufahren, bis Tibo sie unterbrach, indem er seine Hand auf ihre legte.
Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen berührten sie sich, zum zweiten Mal im Leben.
«Ich habe Lotterielose für Sie gekauft, weil ich möchte, dass Sie glücklich sind. Das möchte ich, mehr als alles andere. Neulich wurde mir klar, dass ich mir genau das wünsche. Könnte ich Ihnen das Haus an der dalmatischen Küste kaufen, würde ich es sofort tun. Aber ich kann es leider nicht, deswegen habe ich die Lose gekauft. Sie haben sie verdient. Sie haben Geschenke verdient. Sie haben alles verdient.»
Sie schwiegen. Ein Moment der Stille, in dem nichts passierte und nichts sich regte außer Tibos Daumen, der langsam und sanft Agathes Handrücken streichelte. Er rieb das weiche Polster zwischen ihrem Daumen und ihrem Zeigefinger so sanft, dass Agathe meinte, ihre Haut würde unter seiner Berührung schmelzen.
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