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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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Plötzlich fühlte sie sich wieder wie das kleine Mädchen, das seine Cousinen auf dem Bauernhof besucht hatte und krank geworden war. Genau so hatte ihre Haut sich damals angefühlt, bevor die Krankheit ausbrach, wund und empfindlich und offen, so als sei sie gar nicht mehr da, um sie vor der Welt zu schützen.
    «Wir haben wieder den Fensterplatz bekommen», sagte Tibo nach einer Weile.
    «Ja. Bald ist es ‹unser Tisch›.» Sie fragte sich im selben Augenblick, ob sie zu weit gegangen war, und schob ein hastiges «Entschuldigung» hinterher.
    «Wofür entschuldigen Sie sich?», fragte Tibo. «Hören Sie auf damit. Sie brauchen sich für nichts zu entschuldigen.»
    «Ich wollte nicht anmaßend klingen», sagte sie. «So als erwarte ich, von nun an täglich von Ihnen zum Mittagessen eingeladen zu werden. So als würde es zur Gewohnheit.»
    «Ich glaube, das könnte mir gefallen», sagte der Bürgermeister. «Ich glaube, ich würde gern eine Gewohnheit draus machen. Wenn Sie einverstanden sind.»
    «Ja. Das würde mir sehr gefallen. Wenn Sie möchten.» Und dann, nach der Zeit, die es braucht, einmal angestrengt zu schlucken, fügte sie hinzu: «Tibo.»
    Dem Bürgermeister entging das nicht. «Sie haben Tibo zu mir gesagt», wunderte er sich. «Das haben Sie noch nie getan.»
    Lächelnd drückte sie seine Hand. «Sie haben damit angefangen. Sie haben mich Agathe genannt.»
    «Das würde ich niemals wagen!»
    «Doch, würden Sie! Auf dem Zettel bei den Lotterielosen stand: ‹Liebe Agathe›. Das ist mir aufgefallen. Zum ersten Mal haben Sie mich nicht ‹Frau Stopak› genannt.»
    Tibo räusperte sich und nickte. «Ja», sagte er bedächtig, «du wirst es nicht glauben, aber für das ganze Ding habe ich kaum mehr als eineinhalb Notizblöcke verbraucht. Ganze Wälder sind abgeholzt worden, nur, damit ich dich mit einem halben Dutzend Wörtern zum Mittagessen einladen kann.»
    Sie schwiegen für eine Weile und sahen einander an, bis im hinteren Teil des Restaurants eine Tür aufschwang und Mamma Cesare herauskam, die Arme mit dampfenden Tellern beladen. Während sie um die Tische herumnavigierte, machten sich Tibo und Agathe voneinander los, sie entwirrten ihre Finger und lösten sich mit einem letzten Ruck aus der magnetischen Berührung. Als Mamma Cesare an den Tischtrat, saßen sie brav und sittsam und aufrecht da, verbunden durch nichts als Blicke.
    «Spaghetti», erklärte Mamma Cesare das Offensichtliche. «Kommt ihr morgen, gibt es Gnocchi.»
    «Ich freue mich, heute Spaghetti zu bekommen», sagte Bürgermeister Krovic, ohne die Augen von Agathes Gesicht zu nehmen.
    «Sehr schön», sagte Mamma Cesare. Sie stellte einen Korb mit knusprigem Brot auf den Tisch – «Brot, gutes Brot» – und dazu noch Wasser, Wein, Salat, Öl und Essig, und anschließend zelebrierte sie die unumgänglichen Rituale der italienischen Gastronomie. Sie bestäubte die Teller mit Parmesanspänen und schwang die Pfeffermühle wie einen Knüppel.
    Als sie sich zurückgezogen hatte, sagte Tibo: «Erzähl mir mehr von dir.»
    «Ich habe dir gestern schon viel zu viel erzählt. Erzähle du etwas von dir!»
    Tibo wurde von den Spaghetti in seinem Mund aufgehalten, er brauchte einen Moment, bis er wieder einigermaßen würdevoll sprechen konnte. «Da gibt es nichts zu erzählen. Du weißt alles. Die ganze Stadt weiß alles. Das ist die Tragödie meines Lebens – ich habe nichts, wovon niemand weiß.»
    «Ich weiß kaum etwas über dich», sagte Agathe.
    «Das kann ich nicht glauben. Mein persönlicher Eindruck ist, es gibt nicht viel in Dot, worüber du nicht genau Bescheid weißt.»
    «Belangloses Zeug. Unwichtiges Zeug. Läusepuder und Hypnotiseure. Alles Unsinn. Tibo Krovic, ich weiß, dass du ein guter Mann bist, du bist freundlich und gutaussehend   …»
    «Gutaussehend!»
    «Ja. Sehr gutaussehend, auf deine ganz eigene Art. Du bistzurückhaltend und ehrlich und vertrauenswürdig und ruhig und freundlich, aber eigentlich weiß ich gar nichts über dich.»
    Tibo betrachtete sie über den Brotkorb hinweg – ihre mit Spaghetti beladene Gabel schwebte gerade zwischen Teller und Mund   –, und plötzlich sah Tibo Dinge in ihr, die er in noch keiner Frau gesehen hatte. Es hatte eine Zeit gegeben (war es vor zehn Jahren gewesen oder vor zwanzig, war es noch länger her?), in der Situationen wie diese an der Tagesordnung hätten sein sollen; als Tibo Krovic, ein junger, ehrgeiziger Mann aus Dot, Stammgast in allen Restaurants der Stadt

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