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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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und Schlüssel am richtigen Ort befanden, zog die Haustür so energisch zu, dass die große Messingklappe des Briefkastens klapperte, und trat auf den blaugekachelten Gartenpfad hinaus. Am unteren Rand der Glocke beim Zaun hatte sich eine Kette aus Tautropfen gebildet, und am träge aufschwingenden Gartentor bemerkte Tibo die ersten gelben Blätter, die aus der Birke gefallen waren und nun feucht am Holz klebten. Darum muss ich mich wirklich kümmern, dachte er, wirklich.
    Die Trambahnen, die samstags in Dot verkehren, unterscheiden sich auffällig von jenen, die unter der Woche durch die Straßen rumpeln. Samstags sind die Trambahnen durchgängigvoll, nicht nur frühmorgens, wenn die Leute zur Arbeit fahren, und spätnachmittags, wenn sie nach Hause wollen. Samstags sind die Trambahnen voll mit Kindern   – Gören mit mürrischem Gesicht, die keine Lust haben, ihre Mutter beim Einkaufen zu begleiten, ganze Heerscharen von Kindern mit zusammengerolltem Handtuch unterm Arm, die auf dem Weg in die städtischen Freibäder sind oder, zitternd und mit nassem, an den Kopf geklatschtem Haar, von dort zurückkommen. Ausgehfeine Tanten und Großmütter auf dem Weg zum Kaffeekränzchen im Kaufhaus Braun oder auf dem Rückweg von dort, jede einzelne beladen mit sieben großen Paketen, an deren Schnüren man sich die Finger aufschneidet. Mädchen, die kichernd und aufgeputzt zusammenhocken und dem Tanz am Samstagabend entgegenfiebern, ihre kleinen Brüder, die während der Fahrt in die Stadt vorzugsweise auf dem Oberdeck stehen, sich wie ihre Kameraden an die Heckreling lehnen und zu laut reden, sodass die eine Hälfte der Fahrgäste sich über einen kürzlich im Abendblatt erschienenen Artikel über Rasierklingenbanden aufregt, die die Stadt angeblich demnächst terrorisieren, während die andere Hälfte auf einen niedrig hängenden Ast hofft, der wie aus dem Nichts auftaucht und über den Bus hinwegfährt wie eine Säbelklinge.
    Bürgermeister Krovic störte sich nicht an den Halbstarken. Auf dem Weg in die Stadt erlaubte ihm der Schaffner, hinten auf der Plattform zu stehen, und so schnitterten sie dahin und legten sich unter Eisenrädergekreisch in die Kurven, während Tibo Zeitung las und die Bewegungen mit wippenden Knien, schwingenden Hüften und um die weißgestrichene Stange gehaktem Arm abzufedern suchte. «Nonchalant», sagte Tibo zu sich. Er war der Überzeugung, die Leute auf dem Bürgersteigmüssten ihn, wie er da so hing, geradezu piratenhaft finden. Aber niemand schaute hin.
    Vor der letzten Biegung in die Schlossstraße bremste die Tram bibbernd ab, und Bürgermeister Krovic drehte sich um und stieg rückwärts von der Plattform, um mit balletttänzerischer Sicherheit auf dem Kopfsteinpflaster zu landen; groß und selbstbewusst warf er die gefaltete Zeitung bis auf Augenhöhe hoch, um sie dann wie zum Salut aus der Luft zu schnappen.
    Während die Tram hinter den Häusern verschwand, winkte der Schaffner lächelnd zurück. «Schönen Tag noch, Bürgermeister Krovic!», rief er.
    Tibo öffnete seine Geldbörse und zog einen zusammengefalteten Umschlag heraus. Auf der Vorderseite stand «Bürgermeister T.   Krovic, Rathaus, Rathausplatz, Dot», auf der Rückseite «Zwiebeln, Würstchen, Huhn, Linsen, Karotten, Buch», außerdem, zweimal unterstrichen, «Anzüge». Tibo war es lieber, eine Liste dabeizuhaben. Er überflog sie und plante den Tag.
    Buch, dachte er. Knutson.
    Tibo wartete, bis der Kohlentransporter von Schmidt & Hodo vorbeigerumpelt war, dann warf er sich in den Straßenverkehr und rannte über die Straße. Die Kirchenallee ist mit der Ecke, an der die Albrechtstraße in den Kommerzplatz mündet, durch eine breite Steintreppe verbunden, und mitten in dieser steilen Gasse liegt auf der rechten Seite Knutsons Buchladen. Von der Gasse aus führt eine kleine Treppe, in deren Mitte sich aus Sicherheitsgründen ein eisernes Geländer befindet, trichterförmig zum Ladeneingang hinunter, und ganz unten wartet ein Doppelbogen aus geschwungenen Bleisglasfenstern mit winzigen, alten, von Blasen und Wellendurchsetzten, grünen Scheiben, hinter denen die Bücher aussehen wie eine versunkene Bibliothek am Boden einer Lagune. Die Ladenfront ist von einem besonderen Grün, verstaubt und dunkel wie der Gummibaum im Wohnzimmer einer alten Tante. Und obwohl die Farbschicht hauchdünn ist, blättert sie nicht und schlägt auch keine Blasen. Über der Tür steht in goldenen, altmodischen Lettern:
     
    I.   Knutson,

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