Die Liebeslotterie
Rotwein zu reichen. «Ich bin überzeugt», sagte er, «dass jede Bibliothek, die Ihnen unterstellt ist, nichts anderes sein kann als wundervoll. Trotzdem ziehe ich es vor, sie nicht aufzusuchen. Vermutlich fürchte ich unterschwellig, dort einem meiner Klienten in die Arme zu laufen.»
«Ich laufe meinen Klienten ständig in die Arme», entgegnete Bürgermeister Krovic.
«Ja, aber bei Ihren Klienten handelt es sich meistens um Kriminelle und Schwachköpfe – bei meinen immer.»
Tibo setzte sich auf die Sofalehne und verschränkte die Arme. Er fragte: «Haben Sie nie daran gedacht, ein Buch zukaufen und es in Ihrem gemütlichen Heim zu lesen, abgeschottet von den Blicken der verhassten Klientel?»
«Ich lehne es aus theologischen Gründen ab, Bücher zu kaufen. Es erscheint mir nicht fair, sie mitzunehmen. Außerdem frage ich mich, was ein Buchhändler von seinem Gewinn kaufen soll, wenn er das Wertvollste ohnehin schon besitzt.»
«Winzer», sagte Tibo. «Sie sprechen von Winzern. Auch ich kenne meinen Omar Khayyam.»
In einer angedeuteten Verbeugung rollte Yemko sich kurz nach vorn, das war wohl seine Art zu sagen: «Touché – gut gemacht.» Dann wurde er von einem gigantischen Gähnen geschüttelt, das seinen Kiefer auszurenken drohte. Er sagte: «Sie haben mir immer noch nicht verraten, warum Sie hier sind. Um sich in Sachen Diana und Aktaion weiterzubilden? Die finden Sie dort drüben.» Guillaume zeigte auf ein schmales, hohes Regal am Fenster. «Ovid, die Metamorphosen – abgesehen davon, hat er nichts von Belang geschrieben. Andererseits, wer von uns könnte behaupten, eine Kerze angezündet zu haben, die zweitausend Jahre lang brennt? An wen von uns wird man sich nach seinem Tod auch nur zwei Wochen lang erinnern?»
«An den alten Knutson», sagte Tibo. «An den erinnert man sich.»
«Ich kann mich nicht an ihn erinnern.»
«Was ihm sicherlich nichts ausmacht. Aber Frau Knutson denkt an ihn, und schon länger als zwei Wochen.»
Yemko wirkte, als habe er Mühe, wach zu bleiben. Das aufgespannte Zeitungszelt schien eine immer größere Lockwirkung zu entfalten. «Verzeihung, lieber Krovic, aber das ist eine alberne Sentimentalität, kein fortdauerndes Gedenken. Ein Weilchen noch, und Frau Knutson wird vom allmächtigenStrudel der Zeit fortgerissen, und auch wir, die sie kennen, werden ihr folgen. Innerhalb weniger Herzschläge wird es niemanden mehr geben, der noch weiß, dass sich irgendwer einmal an den Buchhändler Knutson erinnert hat.»
«So ist es mit der Liebe. Sie ist persönlich. Wenn man liebt, braucht man kein Mausoleum.»
Yemko sah ihn lange aus wässrig blauen Augen an und sagte schließlich: «Oh je. Oh jemine, lieber Krovic. Es steht noch viel schlimmer um Sie, als ich dachte.» Er zog sich die Zeitung übers Gesicht und sackte wieder in sich zusammen, um weiterzuschlafen. Offensichtlich war das Gespräch beendet.
Tibo trat an das Regal mit den Homer-Ausgaben. Er entdeckte ein paar wirklich schöne Bücher: strenge, in Leder gebundene Ausgaben, Ausgaben mit prächtigem Einband, in lose Papierumschläge gehüllte Ausgaben, Ausgaben, die womöglich am laufenden Meter gekauft worden waren, um jahrzehntelang auf beeindruckend teuren Regalen zu verstauben. Und dann fand er die richtige – diejenige, die er Agathe kaufen würde. Dieses Buch war geliebt worden, aber nicht zu sehr, es war in Gebrauch gewesen, ohne abgenutzt zu sein. Der weiche Wildledereinband war dunkelrot und erinnerte an einen guten Wein. In einem sonnigen Zimmer und neben einer Schale Oliven würde dieses Buch sich hervorragend machen. Tibo führte es sich an die Nase und atmete den Duft von heißem Sand und Rosmarin ein. Schwer wie ein Schwert lag es in seiner Hand, zog seinen Arm hinab wie eine wilde Strömung. Er hatte es gefunden.
Tibo drehte sich leise und vorsichtig um, wie, um Yemko nicht zu wecken, aber plötzlich hörte er vom Sofa ein Flüstern: «Gib mir tausend Küsse, dann noch hundert, noch einmal tausend und hundert dazu, noch einmal tausend und nocheinmal hundert. Dann, wenn wir viele tausend beisammen haben, bringen wir sie durcheinander, damit wir nichts mehr wissen und kein schlechter Mensch sie mit bösem Blick behexen kann, wenn er weiß, dass es soundso viele Küsse waren.»
«Ihr Freund Catull?», fragte Tibo.
«Catull», bestätigte Yemko. «Passen Sie auf sich auf, Krovic. Es gibt tatsächlich böse Menschen, die schlecht über das Küssen denken und Verheerendes anrichten
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