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Die Liebeslotterie

Die Liebeslotterie

Titel: Die Liebeslotterie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrew Nicoll
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herauszog und aufklappte, um die Bindungund die Schlussschrift zu untersuchen, und ja, dort ist es, das «e» auf Seite sechsundvierzig, wo eigentlich ein «a» hätte stehen müssen. Nein, er war nicht irgendein Bücherwurm, sondern der gute Tibo Krovic, der Bürgermeister von Dot persönlich, müssen Sie wissen.
    «Bürgermeister Krovic», rief Frau Knutson durch den ganzen Laden, «es ist immer ein Vergnügen, Sie zu sehen. Kann ich heute etwas Bestimmtes für Sie tun?»
    «Frau Knutson.» Tibo streckte die Hand aus. «Gut sehen Sie aus, bezaubernd wie immer. Vielen Dank, ich möchte mich nur umsehen.»
    «Wie Sie wollen, Bürgermeister Krovic. Lassen Sie sich Zeit. Ein Kunde wie Sie, Bürgermeister Krovic, ist in diesem Laden immer willkommen. Erst ein kleiner Junge, und nun das. Schauen Sie bloß!»
    Weiter hinten im Laden tauchten aus den Alleen der Bücherregale Köpfe auf – Köpfe von weniger privilegierten Kunden, die schulmeisterlich über die Ränder ihrer Brillen hinweglinsten oder die Brille ganz abnahmen, um sie gereizt an einem dünnen Goldkettchen baumeln zu lassen, was die physische Entsprechung eines gesprochenen «Tse!» war.
    «Es ist mir stets ein Vergnügen, herzukommen», sagte Tibo leise abwiegelnd. Er tätschelte Frau Knutsons Hand und bemerkte die dicken Fingerknöchel und die blauen Adern unter der blassen, pergamentdünnen Haut. «Ich sehe mich bloß um.»
    «Ja, Herr Bürgermeister, tun Sie das. Sehen Sie sich um. Bei uns werden Sie immer fündig!»
    Tibo verzog sich zwischen die Regale, nickte den anderen Kunden entschuldigend zu – «Verzeihung», «Verzeihung», «Guten Morgen», «Dürfte ich bitte   …?»   –, er navigierteso traumwandlerisch sicher, als befände er sich im Rathaus, durch den Laden – vorbei an den modernen Erstausgaben, den Dramen, der Lyrik, an Theologie und Religion (einer riesigen, kaum bestückten Abteilung, die so unerforscht war wie der Amazonas und wo sich Generationen ungeduldiger Liebespärchen ganz blasphemisch geküsst hatten, wovon Tibo natürlich nichts ahnte), vorbei an Reiseführern, Abenteuerliteratur und Ethnographie. Bis er vor den Klassikern stand.
    «Guten Morgen, Bürgermeister Krovic.» Yemko Guillaume füllte das heruntergekommene Ledersofa am Ende des Ganges zur Gänze aus, etwa so, wie ein Walross eine arktische Sandbank unter sich begräbt. Die Wölbung seines enormen Bauches drückte ihm die Knie auseinander, seine Arme lagen auf der Rücklehne wie bei einem Gekreuzigten, und sein Kopf schaute schief unter einer aufgeschlagenen Ausgabe der Morgenpost hervor.
    Er lüpfte die Zeitung mit seinen Wurstfingern und zeigte sein Gesicht. «Sie sind doch Bürgermeister Krovic? Ich habe gehört, wie Sie angekündigt wurden.»
    «Hallo, Guillaume. Neuerdings laufen wir uns ständig über den Weg.»
    «Wenn auch nicht mehr vor Gericht. Ich habe gehört, was passiert ist. Es tut mir aufrichtig leid.»
    «Ich trage es Ihnen nicht nach. Sie haben vollkommen richtig gehandelt.»
    «Richtig, aber nicht
gut
, leider», sagte Yemko. «Nicht so, wie Sie gehandelt hätten. Ich bereue meinen Schritt.»
    Eine peinliche Stille breitete sich aus, bis Yemko sich räusperte und sagte: «Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit. Wollen Sie sich nicht zu mir setzen?» Er vollführte eine seitliche Rollbewegung, woraufhin sich am einen Ende des seufzenden Sofaseine kleine Lücke auftat. Aber beim Anblick des schmalen Streifens Sitzpolster, den Yemko unter Mühen geräumt hatte, sagte Tibo: «Nein, danke, ich bleibe lieber stehen.»
    Yemko lächelte ihn verständnisvoll an und sagte: «Ich erinnere mich an unser Treffen im Kunstmuseum, bei dem ich Ihnen von meinem Brief an Richter Gustav erzählt habe.»
    «Ehrlich, wir brauchen nicht darüber zu sprechen – ich kann Sie verstehen.»
    «Nein, nein», unterbrach ihn der Anwalt, «ich habe Ihre Entschuldigung bereits angenommen. Ich wollte etwas ganz anderes sagen. Ich erinnere mich daran, dass wir über die Klassiker gesprochen haben, die heute keiner mehr liest.» Er zeigte auf die deckenhohen Bücherregale ringsum. «Sind Sie gekommen, um Ihr Wissen aufzufrischen, Krovic? Ich tue das regelmäßig. Ich muss gestehen, dass ich Frau Knutsons Gastfreundschaft auf das schrecklichste missbrauche.»
    «Wissen Sie, wir unterhalten in Dot zahlreiche Büchereien. Die sind ziemlich gut.»
    Yemko konnte ein Schaudern nicht unterdrücken, und er zog ein Gesicht wie ein Oberkellner, der gezwungen wird, zu einem Fischgericht

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