Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1
sie.«
Eigentlich sollte er ihr für dieses Geschenk dankbar sein, aber er fragte sich, warum sie es ihm auf diese Art und Weise gemacht hatte. Warum hatte sie den Mantel heimlich in seinen Schrank gelegt? Warum hatte sie ihn Gair nicht persönlich überreicht?
»Ich werde morgen Unterricht bei ihr haben. Mal sehen, ob sie es erwähnt.«
Darrin lachte. »Mit anderen Worten, du hast zu viel Angst, sie zu fragen. Das kann ich dir nicht vorwerfen, denn ich habe selbst einen gewaltigen Bammel vor ihr.«
»Sie ist nicht so furchteinflößend«, sagte Gair geistesabwesend und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Schranktür. Diese Lehrerin war verblüffend. Eigensinnig, völlig unabhängig, kühn. Als sie das letzte Mal zusammen geflogen waren, hatte sie sich an ihrer eigenen Meisterschaft berauscht, und der Sang war wie eine gewaltige, sich aufbäumende Welle in ihr gewesen, als sie Gair umkreist hatte. Sie hatte vor Freude gelacht; der Klang ihrer tiefen Stimme hatte seine Gedanken wie Blasen durchsetzt, dann hatte sie seine Krallen ergriffen, und sie beide waren durch die klare Bergluft getaumelt. Einmal hatte sie das Gesicht in die Sonne gehalten wie eine Katze auf einer Mauer, während der Wind ihr das lockere Hemd gegen den Körper gedrückt hatte …
Nein. Sie war seine Lehrerin. Er hatte kein Recht, auf diese Weise an sie zu denken. Das war vollkommen unangemessen … aber jetzt, da er an sie dachte, wollte dieses Bild einfach nicht verschwinden. Besonders nicht der Anblick ihrer Augen.
»Hallo-o«, sagte Darrin.
Gair blinzelte.
»Du warst eine ganze Meile weit weg. Ich fürchte, der Schlag gegen den Kopf hat dein Hirn etwas durcheinandergebracht.«
»Entschuldigung.« Bei der Göttin, er musste sich wieder in den Griff bekommen.
»Ich bin noch immer der Meinung, dass du sie fragen solltest.«
»Hmm, ich werde darüber nachdenken.«
Draußen schlug eine Glocke, gefolgt von heftigem Türenschlagen und dem Geräusch dahineilender Füße.
»Abendessen!« Der Belisthaner sprang zur Tür. »Wir sollten uns beeilen, denn sonst ist nichts mehr übrig.«
Gair winkte ihn fort. »Geh schon einmal vor. Ich komme gleich nach.«
»Sicher?«
Er nickte, und Darrin schoss davon wie ein Terrier, der einer Ratte nachjagte. Der Belisthaner mochte von seinem Magen gesteuert werden, aber Gair war so müde und benommen von seiner Verletzung, dass er nicht laufen wollte. Er betastete sein geschwollenes Gesicht und zuckte zusammen. Selbst das Denken schien ihm schwerzufallen.
Langsam nahm er den Zettel hervor und las ihn erneut. Wir geben ein so hübsches Paar ab , hatte sie geschrieben. Nur ein halbes Dutzend Wörter, aber zusammengenommen ließen sie mindestens genauso viele Deutungsmöglichkeiten zu. Wenn sie ihm ein arkadisches Rätselkästchen gegeben hätte, wäre er damit leichter zurechtgekommen. Er steckte die Notiz wieder in die Tasche und ging zum Refektorium, auch wenn er überhaupt keinen Hunger verspürte.
Der Novizenmeister hatte immer großen Wert auf die Hygiene der Knaben und jungen Männer in seiner Obhut gelegt. Regelmäßig war gebadet worden, wobei sehr viel Seife zur Anwendung gekommen war, aber damit endeten bereits die Gemeinsamkeiten mit dem Kapitelhaus. Das Bad des Mutterhauses war in einer feuchten, von Lampen erhellten Kaverne unter den Fundamenten des Schlafsaales untergebracht und bestand aus einem großen gemeinsamen Becken, das kaum hüfttief war, sowie einem kleineren Tauchbecken. Das Erstere wurde von einer schwefelhaltigen warmen Quelle gespeist, das Letztere durch einen steinernen Kanal, dessen Wasser unmittelbar aus dem Fluss Awen stammte und bisweilen auch Frösche und anderes mitbrachte. Dort gab es für einen Jungen, der an der unbehaglichen Grenze zum Erwachsenendasein stand, keine Privatsphäre. Gair war rasch groß genug gewesen, um den Spötteleien und den Handtüchern der anderen Novizen zu entgehen, aber für die jüngeren und dürreren Knaben war die Badezeit stets eine Abfolge von Peinlichkeiten gewesen, bis ihre Körper kräftiger und behaarter wurden.
Im Gegensatz dazu lagen die Bäder des Kapitelhauses in einem langen, gekachelten Raum, der durch hohe Fenster erhellt wurde. Eine Doppelreihe von in den Boden eingelassenen Badewannen wurde durch ein Netz von grünspanbedeckten Kupferleitungen befüllt, die wie Tentakel aus einem Loch in der Wand kamen, hinter der im angrenzenden Raum mehrere monströse Heizkessel standen. Jede einzelne Badewanne war groß genug für
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