Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1
ihm gesagt hatte, er müsse sie nicht mehr Meisterin nennen. Der Mantel blieb im hinteren Teil seines Schrankes, wo er seit dem Tag lag, an dem Gair ihn gefunden hatte. Er hatte es sich nicht erlaubt, ihn noch einmal anzuziehen, obwohl er öfter die Schranktür geöffnet und ein oder zwei Mal danach gegriffen hatte. Er wusste, dass er ihr für dieses Geschenk danken sollte. Ein Dutzend Mal hatte er sich überlegt, wie er dieses Thema anschneiden könnte, aber egal welche Worte er wählte, sie klangen immer gezwungen, auch wenn er sie in der Abgeschiedenheit seines Zimmers laut aussprach. Und dann war da noch die kurze Notiz – bei allen Heiligen, sie konnte so viele Bedeutungen haben …
Plötzlich flog Aysha in das Tal unter ihnen. Irgendwann hatte es dort unten einen Erdrutsch gegeben. Der Boden entlang der Abbruchkante war übersät mit den bleichen Resten umgestürzter Bäume, und an der Stelle, wo sie auf das Flusstal traf, lagen die Stämme hoch übereinandergetürmt. Aysha ging nieder und hockte sich auf einen Felsen oberhalb eines Wildbachs. Fast sofort verwandelte sich der Falke in eine Wölfin. Sie setzte sich auf die Hinterbeine und beobachtete Gairs Herannahen mit großen, bernsteinfarbenen Augen.
Weißt du, worauf du lauschen sollst? , fragte sie, als er neben ihr wieder seine menschliche Gestalt annahm.
»Ich glaube, ja.«
Gair holte tief Luft. Das war eine neue Gestalt, und er musste sich konzentrieren. Auch wenn er nicht mehr befürchtete, der Sang könnte ihm entschlüpfen und zu etwas Zerstörerischem werden, war er in den ersten Augenblicken nach dem Gestaltwandeln stets benommen. Aysha vermochte von einer Gestalt in die andere zu wechseln, ohne auch nur ihren Schritt zu verlangsamen. Von einer so großen Kontrolle konnte er hingegen lediglich träumen.
Gair durchforstete den Sang. Die Melodie, nach der er suchte, war so schwer zu fassen wie der Wolf selbst. Der Wolfsang berichtete von knirschendem Schnee und heißem Atem in einer bitterkalten, sternenklaren Nacht. Als er den Sang in sich hineinließ, verwandelte sich Gair. Seine Glieder wurden kürzer, und die Sinne wurden schärfer. Die Muskeln ordneten sich neu an. Zuerst war es ein fremdartiges Gefühl, doch als die Gestalt sich festigte, wurde es immer vertrauter. Sogar seine Gedanken waren in dem Teil von ihm, der nun ein Wolf war, verändert. Alles, was er je über Wölfe und ihr Verhalten gelesen oder gehört hatte, ergab plötzlich einen Sinn. Es war nun in ihm, war in seine Knochen eingeschrieben und genauso ein Teil von ihm wie das dichte Fell.
Die Wölfin lief im Kreis um ihn herum und musterte ihn.
Gut , sagte sie. Aber dein Schwanz sollte etwas voller, dein Hals stämmiger und deine Brust größer sein, damit du nicht für ein Jungtier gehalten wirst .
Gair richtete sich auf und konzentrierte sich. Danach fühlte sich seine Gestalt besser an; nun war sie eher wie maßgeschneiderte Kleidung und nicht wie abgelegte Sachen, in die er erst noch hineinwachsen musste. Er schüttelte sich und genoss die Art, wie sich das Fell auf ihm bewegte. Es fühlte sich irgendwie gut und richtig an, wie die Gestalt des Feueradlers, doch jetzt konnte er nicht fliegen, sondern rennen, springen, jagen, geschmeidig wie der Wind und fast ohne eine Spur zu hinterlassen.
Ausgezeichnet! Ayshas Wölfin stand wachsam neben ihm und grinste. Jetzt gehen wir auf die Jagd .
19
Im Frühling, wenn es in den Blumenkästen blühte und sie jedes Fenster und jeden Dachgarten mit leuchtenden Farben schmückten, waren acht Tage im Hafen ein Fest für Augen und Nase. Doch nach einem Sturm, wenn Krankheiten an den Kanälen entlangschlichen und die Totenboote ihre Fracht in die stinkende Nacht hinausbrachten, waren acht Tage die Hölle.
Masen legte den Holzdeckel über den Brunnen der Taverne und wischte sich die Hände ab. Der Wassersang war nicht seine stärkste Gabe. Es fiel ihm zwar nicht schwer, der Scharlachfeder zu sauberem Wasser zu verhelfen, aber es war ihm nicht möglich, dasselbe für einen größeren Teil der Stadt zu tun. Das Grundwasser war vergiftet, und das bedeutete, dass er den Brunnen jeden Morgen und Abend säubern musste. Es würde nicht lange dauern, bis es sogar dreimal täglich nötig war. Weiter flussaufwärts lagen zu viele unverbrannte Tote, und zu viele verstopfte Siele spuckten das Wasser auf die Straße, so dass seine Arbeit die Katastrophe nur verzögern konnte.
»Wenn der Regen bloß endlich aufhören würde«, murmelte er. Das
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