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Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1

Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1

Titel: Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elspeth Cooper
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Mutter! Er legte den Kopf auf die Knie. Was war bloß los mit ihm? Er konnte an nichts anderes als an sie denken, konnte nicht einmal den unerwarteten Unterrichtsausfall genießen, sondern verkroch sich stattdessen in einer Ecke und brütete über ihre Abwesenheit. Noch vor zwei Monaten hätte er alles für ein paar Stunden fern von den Meistern gegeben. Und nun, da er dieses Glück hatte, wusste er nichts Besseres damit anzufangen, als sich den Hintern auf einem kalten Steinboden abzufrieren und in Selbstmitleid zu vergehen.
    Holz knarrte in dem Stockwerk unter ihm, und Gair blieb kaum genug Zeit, um sich die Ohren zuzuhalten, bevor sich der gewaltige Mechanismus der Glocke in Gang setzte und die Stunde schlug. Der Boden unter ihm erzitterte, und sogar die Luft in seiner Lunge schien zu vibrieren. Es dauerte ungeheuer lange, bis die Echos endlich verblassten und das Schreien der erschrockenen Möwen wieder zu hören war.
    Er nahm die Hände von den Ohren und kämpfte sich auf die Beine. Wenn er noch länger hier blieb, würde er irgendwann ertauben. Er schüttelte die Steifheit aus seinen Gliedern und lehnte sich gegen die Balustrade. Von hier oben sahen die Inseln ganz anders aus als die grünen Juwelen, die sie im Sommer waren. Jetzt waren alle mit dem untypischen Schnee bedeckt und an den Ufern schlammbraun, als ob sie ihre Röcke in einer Pfütze gewaschen hätten. Der Schnee hatte kaum Ähnlichkeit mit dem, den Gair aus dem Norden gewohnt war. Der klirrende, trockene Frost des Laraig Anor war einfacher zu ertragen als die feuchte Kälte hier.
    Die meisten Häfen und Buchten, die er sehen konnte, waren voller Boote, aber einige Segeltuchstreifen am Horizont verrieten, dass es auch mutigere Seelen gab, die in der Hoffnung ausgefahren waren, noch einen Fang zu machen, bevor das Wetter wieder schlechter wurde. Vor Pencruik reihten sich die Fischerkähne aneinander. Es waren behäbige Gefährte mit kurzen, dicken Masten, zwischen denen das Meerelfenschiff vor Anker lag wie ein Gimraeli-Sulqa inmitten von lauter Eseln.
    Gair stieß sich als Möwe mit schwarzen Flügelspitzen von der Turmbalustrade ab und segelte auf das Schiff zu. Ein oder zwei Mal hatte er als Junge Elfenschiffe in Leahaven gesehen, und einmal hatte er beobachtet, wie eines am Drumcarrick-Kopf in See gestochen war, aber er war bisher keinem dieser Schiffe so nahe gekommen. Es war außergewöhnlich schlank und schnittig und wirkte eher wie etwas Gewachsenes als wie etwas Gebautes. Vom Bugspriet bis zur Achterreling war jede einzelne Linie so fließend wie das Wasser, auf dem es schwamm. Vorn, wo eigentlich der Name stehen sollte, war eine Reihe goldener Zeichen aufgemalt, die nichts glichen, was er je gesehen hatte, aber er wusste, dass das Schiff Morgenstern hieß. Zumindest diese Information war mit den Fuhrleuten aus der Stadt heraufgekommen, aber das war auch alles. Er kannte nicht einmal den Namen des Kapitäns.
    Er flog zwischen den hohen Masten der Morgenstern hindurch und glitt dann an der Hafenseite an ihr vorbei. Zwei Meerelfen beobachteten ihn vom Achterdeck aus. Beide hatten lange, weiße Haare und scharfknochige, alterslose Gesichter. Der Mann trug ein Wams aus Seehundfell und an jeder Hüfte ein langes Messer. Er runzelte die Stirn. Die Frau neben ihm war in verschiedene Grüntöne gekleidet und neigte den Kopf bedeutungsvoll, als Gair an ihr vorbeiflog. Ein sanfter, aber fester Druck wie von einem Wind, der aber nicht wehte, schob ihn aufs Meer hinaus.
    Also besaßen auch die Meerelfen die Gabe. Die Frau auf dem Deck hatte erkannt, dass er zwar wie eine Möwe aussah, aber keine war, und sie hatte ihn anmutig begrüßt. Und gleichzeitig hatte sie ihm deutlich gemacht, dass er in der Nähe des Schiffs nicht erwünscht war. Er fragte sich, ob das an ihrem Wunsch nach Privatsphäre oder an dem Passagier lag, den sie an Land gebracht hatten.
    Die Meerelfe hatte ihn auf einen Kurs gesetzt, der ihn über den Sund von Penglas und die äußeren Inseln auf die Fünf Schwestern zu führen würde, die wie abgestumpfte Zähne aus dem trüben Wasser ragten. Dünnster Wintersonnenschein versilberte die Wellenkämme, und Gair folgte seinem Kurs auf die fernsten Inseln zu. Der Flug in dieser kalten Luft war belebend, und die Konzentration, die notwendig war, um nicht in einer der aufbrandenden Wellen zu landen, verhinderte, dass er weiter seinen düsteren Gedanken nachhing. Hinter der kleinsten Schwester sah er ein weiteres Segel, das von Norden

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