Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1
vorbei.«
Sie machte sich von ihm los, stieg aus der Wanne, trocknete sich ab und griff nach ihren Kleidern, die am Fußende des Bettes lagen. Gair sah ihr beim Anziehen zu und genoss mit den Augen, was er nun nicht mehr mit den Händen berühren konnte.
Aysha warf ihm das Hemd an den Kopf. »Du starrst mich an.«
»Du bist wunderschön.«
»Lügner.« Sie öffnete die Tür und warf ihm ein Lächeln zu, als sie sich in ihre Lieblingsgestalt verwandelte: einen Turmfalken. Dann war sie verschwunden.
Gair wartete bis nach der Vesper, aber sie kehrte nicht zurück. Das Bett in seinem Zimmer fühlte sich klein und kalt an. Er hatte sich daran gewöhnt, Aysha neben sich zu haben, wenn er einschlief, und er vermisste ihre Wärme sowie ihren Geruch auf dem Kissen. Doch es wäre noch schlimmer gewesen, wenn er in ihrem Bett geblieben wäre und auf sie gewartet hätte. Umgeben von ihrem Geruch, dem Echo ihrer Gegenwart, hätte er ihre Abwesenheit nur noch deutlicher gespürt.
In der obersten Kammer des Glockenturms war es kalt und zugig, aber gerade dies entsprach Gairs Stimmung. Er hatte lange nicht einschlafen können, und als es ihm schließlich doch gelungen war, hatte er dunkle und verstörende Träume gehabt und war lange vor der Morgendämmerung erwacht. Seine Schwertübungen hatte er nach kaum einer Stunde aufgegeben, und sogar das Geplapper im Refektorium hatte an seinen Nerven gezerrt. Als ein gequält aussehender Adept dem ganzen Saal verkündet hatte, dass der Unterricht an diesem Tag ausfalle, war er verärgert gewesen, weil er nicht wusste, womit er sich beschäftigen sollte, und gleichzeitig hatte er Erleichterung darüber verspürt, in seiner gegenwärtigen Stimmung nicht mit dem Sang ringen zu müssen.
Gair hatte sich in den Windschatten einer Mauer gekauert und den Mantel eng um sich gezogen. Eiskristalle durchsetzten den Wind und stachen ihm in die ungeschützte Haut wie Pferdebremsen. An Tagen wie diesem war er als Junge auf seinem Pony in die Berge geritten, wenn er keine Ruhe fand. Manchmal hatte er auch einen der Wolfshunde zur Gesellschaft mitgenommen, und sie waren über die heidekrautüberwucherten Hänge der Langen Klamm gestreift, bis er seine Ruhelosigkeit überwunden hatte. Während seiner Zeit im Mutterhaus hatte er viele freie Tage auf den oberen Tribünenrängen oder dem grasbewachsenen Gipfel des Tempelberges verbracht. Wann immer er dieses Jucken in der Seele verspürte, verlangte es ihn nach hohen, offen unter Wind und Himmel liegenden Orten, als ob er auf diese Weise in sich selbst ein wenig Platz schaffen könnte.
Geistesabwesend streckte er die Fühler nach Ayshas Farben aus und durchforstete die glühenden Muster der anderen Bewohner des Kapitelhauses. Eine dichte Kugel aus lebhaftem Blau umgab Alderans Arbeitszimmer; sie war so fest wie Stahl. Der Raum, in dem sich nun die wichtigsten der Meister befanden, war durch einen Schutzzauber verschlossen, den Gair unmöglich durchdringen konnte.
Welche Botschaft von dem Meerelfenschiff auch immer hierhergetragen worden war, es musste sich um etwas Wichtiges und Schlimmes handeln. Es war die Schnelligkeit eines Elfenschiffs notwendig gewesen sowie die abendliche Einberufung des gesamten Rates, der anscheinend die ganze Nacht hindurch getagt hatte. Vielleicht ging es um Krieg. Vielleicht waren Kierims Bemühungen, den Frieden in Gimrael aufrechtzuerhalten, fehlgeschlagen, wie Alderan vorhergesagt hatte, und das Reich musste sich auf einen Aufstand vorbereiten. Vielleicht auch hatte die Kirche einen weiteren Glaubenskrieg verkündet und die Ritter in die Schlacht geschickt.
Unter anderen Umständen wäre er mit diesen Rittern gezogen und für Weiß und Gold gestorben, wenn es nötig gewesen wäre. Doch wenn alles anders gekommen wäre, dann befände er sich jetzt nicht hier am äußeren Rande des Reiches, wo er seinen Platz in einem anderen Orden suchte – und er hätte niemals Aysha kennengelernt.
Er vermisste sie. Sie waren kaum einen ganzen Tag und nur wenige hundert Fuß voneinander getrennt, und dennoch vermisste er sie. Es schmerzte mehr, als er es je für möglich gehalten hätte. Er sagte sich, dass sie als Ratsmitglied eine gewisse Verantwortung hatte und es ihre Pflicht war, sich mit den anderen zu treffen, aber er vermochte die selbstsüchtige leise Stimme in seinem Hinterkopf nicht zum Schweigen zu bringen, die ihm sagte, dass es diese Verantwortung und diese Pflichten waren, die sie von ihm fernhielten.
Grundgütige
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