Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1
geworden war, hatte er nicht wieder zugelegt; vielleicht war er sogar noch etwas dünner geworden. Er war hager, und seine Augen glitzerten dunkel in den tiefen Höhlen. Die einzige Farbe in seinem Gesicht kam von zwei fiebrigen Flecken auf den Wangen. »Ich hätte gern gewusst, worüber sie geredet haben.«
»Vielleicht erfahren wir das später noch«, sagte Gair. »Der Klatsch aus der Stadt findet für gewöhnlich innerhalb eines Tages seinen Weg zum Kapitelhaus.«
»Vielleicht.«
»Ich brauche ein Frühstück. In einer halben Stunde muss ich bei Meister Eavin sein.« Gair zog am Seil der Falltür, die hinunter zur Glockenkammer führte. »Kommst du, Darrin?«
»Wie bitte? Oh, ja, ja.« Der Belisthaner machte einige Schritte auf die Falltür zu, blieb dann stehen und richtete den Blick wieder auf den Hafen. Seine blassen Finger huschten zuckend über das Fernrohr und drehten den kleinen Messingzylinder hin und her.
»Darrin?«
»Ich komme, ich komme. Nörgle nicht so an mir herum.«
Gair ließ ihm auf der Treppe den Vortritt. Er folgte Darrin und sah, wie dieser aus jedem Fenster schaute, das auf Pencruik hinausging, auch wenn ihm bald die Mauern des Kapitelhauses die Sicht versperrten. Seine tief verschatteten Augen waren immer auf denselben Punkt gerichtet, als ob sie durch den Stein sehen könnten. Was beunruhigte ihn so? Irgendetwas stimmte nicht. Er war eindeutig nicht ganz er selbst.
Nach dem Abendessen ging Gair zu Darrins Zimmer und spielte Schach mit ihm. Der Belisthaner sah gar nicht gut aus. Seine Haut war grau, und die Schatten unter seinen Augen waren noch dunkler geworden und wirkten inzwischen wie Blutergüsse. Für gewöhnlich war er ein kühner und schneller Spieler, aber jetzt starte er das Brett an, als sähe er es zum ersten Mal in seinem Leben, und genauso spielte er. Er verlor drei Partien hintereinander.
Anstatt mit einer vierten zu beginnen, schob Gair das Brett beiseite. »Heute Abend bist du nicht ganz bei dir. Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Hmm?« Darrin blinzelte ihn an. »Oh, ja, es geht mir gut. Ich bin bloß müde.«
»Hält dich Renna in der letzten Zeit lange wach?«
»Ich wünschte, es wäre so.« Kurz blitzte der alte Darrin auf, doch dann war er schon wieder verschwunden. »Im Augenblick schlafe ich nicht gut, das ist alles. Ich habe komische Träume.«
»Wovon?«
»Ich weiß es nicht. Ich wache einfach mit dem Gefühl auf, gerade einen Alptraum gehabt zu haben, aber ich erinnere mich an gar nichts daraus.«
»Solltest du vielleicht einmal mit Saaron darüber reden?«
»Nein, es ist schon in Ordnung. Ich will wirklich nicht darüber sprechen.«
Gair zog das Brett wieder zu sich heran und stellte die Spielfiguren auf. »Vielleicht kann er dir helfen.«
Darrin fuhr mit dem Arm über den Tisch und verstreute dabei die Figuren in alle Richtungen. Nun war die schläfrige Benommenheit von ihm gewichen und durch fiebrige Energie ersetzt. In seinen dunklen Augen blitzte es. »Ich will nicht darüber reden«, knurrte er.
Gair rutschte auf seinem Stuhl hin und her. So hatte er Darrin noch nie erlebt. »Ja«, meinte er vorsichtig, »das hast du schon einmal gesagt. Wollen wir das Brett für ein weiteres Spiel herrichten?« Er sammelte die kleinen Figuren ein und platzierte sie auf den einzelnen Feldern.
Wenige Sekunden später war Darrins schlechte Laune verschwunden, und er widmete sich ganz dem Spiel, aber nachdem jeder ein halbes Dutzend Züge gemacht hatte, schlummerte er beinahe über seinen Figuren ein. »Entschuldigung, Gair«, murmelte er und gähnte. »Ich kann mich einfach nicht mehr wach halten.«
»Dann geh ins Bett. Wir spielen morgen weiter.«
»In Ordnung.« Ohne ein weiteres Wort zog Darrin seine schlammbespritzten Stiefel aus und legte sich aufs Bett. Schon nach wenigen Sekunden zeigte sein regelmäßiger Atem an, dass er eingeschlafen war.
Gair holte ein Laken aus dem Schrank und breitete es über ihn, bevor er das Zimmer verließ. Der Belisthaner war eindeutig nicht mehr er selbst.
Dank der großen Kupferkessel des Kapitelhauses und des guten Leitungssystems war Ayshas tiefe Badewanne randvoll. Dichter Dampf hing in der Luft, die nach Bergamottöl duftete.
»Für jemanden, der wie eine Dorfhebamme aussieht, hat Esther einen Verstand, mit dem man Felsen knacken könnte.«
Gair massierte sich die Schläfen und versuchte dadurch die drohenden Kopfschmerzen zu vertreiben. Es war eine harte Stunde bei der matronenhaften Meisterin gewesen,
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