Die Lieder der Erde - Cooper, E: Lieder der Erde - Songs of the Earth 1
Gesicht fragte sich Danilar, wie lange es noch dauern würde, bis der kostbare Psalter dem Mann an den Kopf flog.
»Ihr sitzt endlich Modell für Euer Porträt, Herr?«, fragte er.
Ansel rollte mit den Augen. »Es musste ja früher oder später geschehen«, murmelte er und regte sich auf dem Stuhl. Der Künstler schnalzte missbilligend mit der Zunge, zeichnete aber weiter; sein Bleistift schoss über das Papier.
»Holst du mir bitte ein Kissen? Mein Hintern ist schon ganz taub von diesem verdammten Stuhl.«
»Wie ich Euch bereits erklärt habe, Herr, würde ein Kissen den Faltenwurf Eurer Robe beeinträchtigen«, flötete Teuter. »Es wäre nicht gut, Euch als Invaliden zu porträtieren.«
»Ha! Es wäre nicht gut? Seit wann ist es nicht gut , die Wahrheit zu sagen? Ich bin ein alter Mann, Teuter. Male mich so, wie du mich siehst!«
»Herr?«
Ansel machte eine Geste mit dem Buch. »So, wie du mich siehst – mit meinen gichtigen Fingern und alldem.«
Teuter schürzte die Lippen, sagte aber nichts.
Danilar sah zu, wie die Zeichnung Gestalt annahm. Einige geschickte Linien deuteten die Bücherregale und Bleiverglasung des Fensters an, und kühnere Striche bildeten den Stuhl und zeigten denjenigen, der darauf saß. Ansels finsterer Blick hingegen war in ein gütiges Lächeln verwandelt.
Nach knapp fünf Minuten bewegte sich Ansel wieder. »Das reicht für heute. Ich muss mit dem Kaplan einige Dinge besprechen.«
»Herr, wir haben doch kaum erst angefangen …«
Aber Ansel war schon aufgestanden und trat die Fluten von Samt und Seide von seinen Füßen. »Ich habe gesagt, es reicht, Teuter. Komm morgen wieder.«
Der Maler senkte den Stift und schien noch etwas erwidern zu wollen, dann schluckte er die Worte ungesagt herunter. »Wie Ihr wünscht, Herr.« Er nahm sein Malzeug und ging zur Tür.
Dalinar ließ ihn mit einer Verneigung hinaus und schloss die Tür hinter ihm.
»Wessen Idee war es eigentlich, jeden Präzeptor in einem Porträt zu verewigen, Danilar?« Ansel schüttelte seinen schweren Umhang ab und warf ihn nachlässig über die Armlehne des Stuhls. Er humpelte zu seinem verschobenen Schreibtisch und nahm dahinter Platz. Mit einem Seufzen ließ er sich auf das Kissen fallen.
»Ich glaube, es war Präzeptor Theudis’ Idee, vor hundert Jahren.« Der Kaplan holte sich den Stuhl und setzte sich darauf.
»Es war eine verdammt dumme Idee, wenn du mich fragst.«
»Wenn Ihr bereits bei Eurer Salbung Porträt gesessen hättet, wie es Eure Vorgänger taten, dann würdet Ihr es jetzt nicht so unangenehm finden.«
»Wann hätte ich denn Zeit für so etwas gehabt? Schon sechs Monate nach meinem Amtsantritt bin ich in den Krieg gezogen und habe die nächsten fünf Jahre im Sattel verbracht. Ein feines Porträt hätte das gegeben – mit zerschrammter Rüstung und blutig bis zu den Augenbrauen.«
»Es wäre erfrischend anders gewesen, einmal einen Präzeptor bei der Arbeit zu sehen«, bemerkte Danilar.
»Statt dieses verzückten Posierens, meinst du? Allerdings.« Ansel schüttelte den Kopf. »Bei allen Heiligen, wenn dieser Teuter mich so wie den alten Theudis darstellt, platzend vor Frömmigkeit, dann ramme ich ihm seine Pinsel in die Ohren.«
Der Präzeptor griff nach der Flasche und den Gläsern auf seinem Tisch und goss ihnen beiden eine anständige Portion Branntwein ein. Das eine Glas schob er quer über den Tisch.
»Wisst Ihr, es ist noch nicht einmal Mittag«, sagte Danilar.
Ansel verzog die Lippen. »Halt mir keine Predigten«, fuhr er Danilar an. »Es ist schon schlimm genug, wenn Hengfors das tut; da musst du nicht auch noch dasselbe Lied anstimmen. Inzwischen ist es zu spät, sich über den Zustand meiner Leber Sorgen zu machen.« Er nahm einen großen Schluck und bewegte den Branntwein im Mund, dann schluckte er ihn mit einem Seufzer. »Es tut mir leid, alter Freund. Ich sollte meine schlechte Laune nicht an dir auslassen.«
»Machen Euch die Gelenke Schwierigkeiten?«
Ansel zog eine Grimasse. »Schmerzen haben mich schon immer reizbar gemacht.«
»Das stimmt.« Danilar nahm sein Glas, trank aber nicht. »Jedes Mal, wenn Ihr genäht werden musstet, habt Ihr die Heiler angebrüllt.«
»Und das war einige Male mehr, als es nach der Würde meines Amtes zu erwarten gewesen wäre.«
Danilar musste lächeln. Für einen Augenblick fielen die letzten zwanzig Jahre von ihm ab, und er befand sich wieder in der quälenden Hitze der Wüste, hielt ein Schwert in der Hand und hegte Zweifel im
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