Die Lilie im Tal (German Edition)
Gott. Dann soll sich unsere Seele von allen irdischen Dingen lösen. Es gilt, seine Freunde zu lieben, wie man seine Kinder liebt, ihretwegen, nicht um seiner selbst willen. Das Ich verursacht Jammer und Leiden. Mein Herz wird höher steigen als der Adler; dort gibt es eine Liebe, die nicht trügt. Das gemeine Leben zieht uns hinab, es läßt die Selbstsucht der Sinne über die Engel in uns siegen. Die Freuden der Leidenschaft sind stürmisch und furchtbar und fordern den Preis entnervender Unruhen, welche die Kraft unserer Seele brechen. Ich bin bis an das Ufer des Meeres gekommen, wo die Stürme wüten; ich habe sie zu sehr aus der Nähe gesehen. Sie haben mich oft in ihren Gischt gehüllt, die Woge hat sich nicht immer zu meinen Füßen gebrochen; ich habe Ihre rauhe, kalte Umarmung gefühlt. Ich muß zu den Höhen zurückkehren; am Rande dieses gewaltigen Meeres müßte ich zugrunde gehen. Ich sehe in Ihnen wie in allen, die mich betrübt haben, die Beschützer meiner Tugend. Mein Leben war voller Qualen, aber ich konnte mich ihnen zum Glück gewachsen zeigen; so blieb es rein von sündigen Leidenschaften, ohne verlockende Rast, stets Gott geweiht. Unsere Freundschaft war der unsinnige Versuch, die Bemühung zweier ahnungsloser Kinder, ihrem Herzen, den Menschen und Gott genugzutun... Welche Torheit! – Ach!« sagte sie nach einer Pause, »wie nennt Sie diese Frau?« »Amadeus!« antwortete ich, »Felix ist ein Mensch für sich, der stets nur Ihnen gehören wird.« – »Es wird Henriette schwer, zu sterben«, sagte sie, und ein frommes Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Aber sie wird dem ersten Ansturm der demütigen Christin, der stolzen Mutter, der Frau erliegen, deren Tugend, gestern noch schwankend, heute gefestigt ist. Was soll ich Ihnen sagen? Nun ja, mein Leben Steht im Einklang mit sich selbst, in den größten wie in den kleinsten Dingen. Das Herz, in das die ersten Wurzeln meiner Zärtlichkeit sich hätten senken sollen, das Herz meiner Mutter, blieb mir verschlossen, sosehr ich auch versuchte, mich hineinzuschmiegen. Ich war ein Mädchen, ich kam nach drei toten Söhnen und versuchte vergebens, ihren Platz in der Liebe meiner Eltern auszufüllen; ich vermochte nicht, die Wunde zu heilen, die der Familienstolz erlitten hatte. Als ich nach dieser düstern Jugend meine verehrungswürdige Tante kennenlernte, atmete ich auf. Aber bald entriß sie mir der Tod. Monsieur de Mortsauf, dem ich gehöre, hat mich immer nur verletzt, unaufhörlich, ohne es zu wissen, der Arme! Seine Liebe hat den naiven Egoismus, womit die Kinder die Eltern lieben. Er weiß nichts von den Schmerzen, die er mir verursacht; er weiß, ihm ist alles im voraus verziehen.
Meine Kinder, diese lieben Kinder, die durch all ihre Leiden mit meinem Fleisch, durch all ihre Eigenschaften mit meiner Seele, durch ihre unschuldigen Freuden mit meiner Natur verwachsen sind: sind mir diese Kinder nur geschenkt, um zu zeigen, wieviel Kraft und Geduld die Brust einer Mutter umschließt? O ja, meine Kinder sind meine Tugenden. Sie wissen, wie ich mich in ihnen, unter ihnen, trotz ihnen gegeißelt habe. Mutter werden bedeutete für mich, das Recht ewigen Leidens zu erwerben. Als Hagar in der Wüste schrie, da ließ ein Engel für diese zu sehr geliebte Sklavin eine frische Quelle hervorsprudeln. Aber ich! Als die lautere Quelle, zu der Sie mich führen wollten, bei Clochegourde aus dem Boden sprang, da spendete sie nur bitteres Wasser. Ja, Sie haben mir unerhörte Qualen bereitet. Gott wird gewiß dem verzeihen, der in der Liebe nur Leid gefunden hat. Aber wenn mir von Ihnen die heftigsten all meiner Schmerzen kamen, so hatte ich sie vielleicht verdient. Gott ist nicht ungerecht. Ja, Felix, ein Kuß, der flüchtig auf eine Stirn gedrückt wird, ist vielleicht soviel wert wie ein Verbrechen, vielleicht muß man die Schritte bitter büßen, die man bei abendlichen Gängen vor Mann und Kindern vorauseilte, wie man mit Gedanken und Erinnerungen allein sein wollte, die ihnen nicht gehörten; man muß es büßen, daß dabei die Seele einer andern vermählt war. Wenn der ganze innere Mensch sich um die Stelle zusammenzieht, die er den Liebkosungen darbietet, ist das vielleicht die schlimmste aller Sünden! Sünde ist es, sich eine Zukunft zu erträumen, die den Tod eines Menschen verlangt; Sünde, sich für künftige Zeit eine angstlose Mutterschaft auszumalen, schöne Kinder, die des Abends mit dem von allen vergötterten Vater spielen unter den
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