Die Lilie im Tal (German Edition)
gerührten Augen einer glücklichen Mutter. Ja, ich habe gesündigt, schwer gesündigt. Ich habe Gefallen gefunden an den Bußübungen, die die Kirche auferlegt und die doch die Fehler nicht sühnen konnten, gegen die der Priester wohl zu nachsichtig war. Gott hat, so scheint es, zur Strafe das Herz meiner Irrungen getroffen und den mit seiner Rache betraut, für den sie begangen wurden. Ich gab Ihnen mein Haar; hieß das nicht: mich Ihnen versprechen? Warum trug ich mit Vorliebe weiße Kleider? Ich wollte Ihre Lilie sein. Sie hatten mich zum erstenmal hier in einem weißen Kleid gesehen. Ich habe meinen Kindern viel Liebe entzogen. Sie sehen wohl, Felix, jedes Leiden hat seine Bedeutung. Schlagen Sie, schlagen Sie fester zu als Monsieur de Mortsauf und meine Kinder! Diese Frau ist ein Werkzeug des göttlichen Zornes. Ich will ihr ohne Haß begegnen, ich werde ihr zulächeln. Als Christin, Gattin und Mutter muß ich sie lieben. Wenn es wahr ist, daß ich Ihr Herz vor entwürdigenden Berührungen bewahrt habe, so kann mich diese Engländerin nicht hassen. Eine Frau muß die Mutter ihres Geliebten lieben – und ich bin Ihre Mutter! O ja, Sie haben sich immer über seine Kälte beklagt. Und ich war in Wirklichkeit nur Ihre Mutter. Verzeihen Sie, daß ich, ohne es zu wollen, zu Ihnen hart war, als Sie hier ankamen; denn eine Mutter soll sich freuen, wenn sie ihren Sohn so geliebt weiß!« Sie lehnte ihren Kopf an meine Brust und wiederholte: »Verzeihen Sie, verzeihen Sie!«
Da hörte ich unbekannte Laute; es war weder ihre Mädchenstimme mit ihrem fröhlichen Klang noch ihre Frauenstimme mit dem gebieterischen Tonfall, noch waren es die Seufzer der wunden Mutter, es war eine herzzerreißende, eine neue Stimme, die Stimme neuer Leiden:
»Was Sie betrifft, Felix«, fuhr sie lebhafter fort, »so sind Sie der Freund, der nicht schlecht handeln kann. Sie haben in meinen Augen nichts verloren. Machen Sie sich keine Vorwürfe, keine Gewissensbisse! War es nicht der Gipfel der Selbstsucht, als ich von Ihnen verlangte, einer unerreichbaren Zukunft zuliebe die höchsten Freuden zu opfern, Freuden, um derentwillen eine Frau ihre Kinder verläßt, ihre Stellung einbüßt, die Ewigkeit vergißt. Wie oft habe ich Sie mir überlegen gefunden! Sie waren groß und edel, ich kleinlich und sündhaft! – So, nun habe ich's gesagt, ich kann für Sie nur ein fernes, strahlendes und kaltes, aber ungeschwächtes Licht sein. Nur, Felix, sorgen Sie dafür, daß meine Liebe zu dem Bruder, den ich mir erwählt habe, erwidert werde. Haben Sie mich lieb!
Die Liebe einer Schwester hat keinen traurigen Nachgeschmack, sie kennt keine Hindernisse. Sie werden der nachsichtigen Seele nichts vorzulügen brauchen, die an Ihrem schönen Leben teilnehmen, die über Ihr Leid trauern, über Ihre Freude sich freuen und die Frauen lieben wird, die Sie glücklich machen; sie wird außer sich sein, wenn Sie verraten werden. Ich habe nie einen Bruder gehabt, den ich so lieben konnte. Seien Sie großherzig genug, alle Eigenliebe abzulegen, um unsere bis jetzt zweifelhaften und unruhigen Beziehungen in diese sanfte, heilige Liebe zu verwandeln! So kann ich dann weiterleben. Ich werde damit beginnen, Lady Dudley die Hand zu drücken.«
Sie weinte nicht. Während sie diese Worte voll bitterer Weisheit sprach, die den letzten Schleier von ihrer schmerzensreichen Seele nahmen, zeigte sie mir, wie viele Bande sie an mich knüpften, welch kräftige Ketten ich gebrochen hatte. Wir waren so sehr entrückt, daß wir den Regen nicht merkten, der in Strömen niederfiel.
»Wollen Madame la Comtesse nicht einen Augenblick hier einkehren?« fragte der Kutscher, auf die Hauptherberge von Ballan weisend.
Sie nickte zustimmend, und wir blieben etwa eine halbe Stunde unter dem Torbogen, zum großen Staunen der Leute, die sich fragten, warum Madame de Mortsauf nachts um elf Uhr noch unterwegs sei. Fuhr sie nach Tours? Kehrte sie von dort zurück? – Als das Gewitter vorüber war, verwandelte sich der Regen in ein feines Rieseln; der Mond schien auf die höheren Nebelschichten, die vom Winde gejagt wurden, der Kutscher kam heraus und ging zu meiner großen Freude zum Wagen zurück.
»Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe!« rief ihm die Comtesse leise zu. – Wir schlugen den Weg durch die Karlsheide ein, wo es wieder heftiger zu regnen begann. Mitten in der Heide hörte ich das Bellen von Arabellas Lieblingshund. Ein Pferd brach aus einem Eichengehölz hervor, setzte über den
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