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Die Lilie im Tal (German Edition)

Die Lilie im Tal (German Edition)

Titel: Die Lilie im Tal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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und daß man sie hütet und ihnen wohltut ... Die Kinder besitzen eine Sehergabe; sie schmiegen sich katzenartig an, sie üben die sanfte Tyrannei aus, die sie nur für Anbetende und Angebetete übrig haben, sie sind zartfühlend und feinsinnig und rücksichtsvolle und unschuldige Mitwisser; auf den Zehenspitzen schleichen sie heran, lächeln einen an und entfernen sich geräuschlos. Alles bemüht sich um einen, alles lacht einem liebevoll zu. Wahre Leidenschaften sind wie schöne Blumen, deren Anblick desto mehr erfreut, je undankbarer der Boden ist, auf dem sie wachsen. Ich genoß die wonnigen Vorteile dieser Einverleibung in eine Familie, in der ich Verwandte nach meinem Herzen fand; aber ich nahm auch Verpflichtungen auf mich. Bis dahin hatte sich Monsieur de Mortsauf vor mir beherrscht: ich hatte nur seine größten Fehler gesehen, jetzt fühlte ich ihre Einzelanwendung in ihrem ganzen Umfang und sah, wie nachsichtig die Comtesse gewesen war, als sie mir ihre täglichen Kämpfe beschrieb. Ich lernte alle Kanten seines unerträglichen Charakters kennen, ich hörte seine steten Schreiereien um nichts und wieder nichts, seine Klagen über Schmerzen, für die man noch keine äußern Anzeichen bemerken konnte, die tief wurzelnde Unzufriedenheit, die jede Fröhlichkeit mordete, und das unersättliche Bedürfnis zu tyrannisieren, das ihn immer auf neue Opfer hetzte. Wenn wir abends spazierengingen, bestimmte er allein das Ziel, aber gleichviel, wohin es ging – stets war er gelangweilt; zu Hause angelangt, lud er auf andere die Last seiner Müdigkeit ab; seine Frau war schuld daran, sie hatte ihn gegen seinen Willen geführt, wohin es ihr gefiel. Da er sich nicht mehr erinnerte, daß er uns geführt hatte, beklagte er sich darüber, bis ins kleinste unter dem Pantoffel seiner Frau zu stehen, keinen eigenen Willen und Gedanken mehr zu haben, eine Null in seinem Hause zu sein. Wenn seine Ungerechtigkeiten auf geduldiges Schweigen stießen, wurde er wütend, weil er die Grenzen seiner Macht erkannte. Erbittert fragte er, ob die Religion den Frauen nicht vorschriebe, sich ihren Männern zu fügen; ob es sich denn gehöre, den Vater der Kinder zu verachten. Schließlich gelang es ihm immer, eine empfindsame Saite im Herzen seiner Frau zu treffen, und wenn er sie erzittern fühlte, saß er da und genoß hocherfreut seine nichtige Überlegenheit. Manchmal kehrte er den dumpfen Schweiger heraus, den krankhaft Entmutigten. Das erschreckte seine Frau, die ihm dann die rührendste Pflege angedeihen ließ. Einem verwöhnten Kinde gleich, das seine Macht mißbraucht, ohne sich um die Bestürzung der Mutter zu kümmern, ließ sich der Comte verhätscheln, genau wie Jacques und Madeleine, auf die er außerdem eifersüchtig war. Kurz, ich entdeckte allmählich, daß der Comte im großen und im kleinen, mit seinen Dienstboten, seinen Kindern und seiner Frau so umging wie mit mir beim Tricktrack. Mehr und mehr erkannte ich in ihren Wurzeln und Zweigen die Schwierigkeiten, die Lianen gleich Bewegung und Atmung der Familie beengten und erstickten, die den Gang des Hauswesens mit zahlreichen feinen, unzerreißbaren Fäden umspannen und den wachsenden Wohlstand behinderten, indem sie die einfachsten Handlungen unnötig erschwerten. Mit dieser Erkenntnis wuchs die ehrfürchtig scheue Bewunderung für Henriette. Sie lehrte mich, meine Liebe zu beherrschen und sie fest in meinem Herzen zu verschließen. Gott, was war ich denn? Die Tränen, die ich geschlürft hatte, erzeugten in mir eine erhabene Trunkenheit, und ich empfand es als ein Glück, die Leiden dieser Frau zu den meinen zu machen. Früher hatte ich mich den herrischen Launen des Comte gefügt, wie ein Schmuggler seine Strafe bezahlt; künftighin wollte ich mich den Schlägen des Despoten aussetzen, um mich Henriette ganz nahe zu fühlen. Die Comtesse durchschaute mich; sie räumte mir einen Platz an ihrer Seite ein, und sie belohnte mich damit, daß sie mir erlaubte, ihre Schmerzen zu teilen, wie vorzeiten dem reumütigen Bekehrten, der darauf brannte, gleichzeitig mit seinen Brüdern den Himmel zu erlangen, die Gnade zuteil ward, im Zirkus zu sterben.
    »Ohne Sie wäre ich diesem Leben erlegen«, sagte mir Henriette eines Abends, als der Comte, wie die Fliegen bei großer Hitze, bissiger, peinigender und unruhiger denn je gewesen, war.
    Der Comte war zur Ruhe gegangen. Henriette und ich verbrachten einen Teil des Abends unter unsern Akazien; die Kinder spielten um uns her, sie

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