Die Lilie im Tal (German Edition)
eindringe, hatte sie Monsieur de Mortsauf nach Tours geschickt; er sollte sich dort mit den Notaren herumschlagen. Ich allein kannte, wie sie gesagt hatte, die Geheimnisse von Clochegourde. Da sie aus Erfahrung wußte, wie sehr die reine Luft, der blaue Himmel ihres Tales die Reizbarkeit des Comte und seine schweren körperlichen Leiden milderte und welchen Einfluß der Aufenthalt in Clochegourde auf die Gesundheit ihrer Kinder hatte, nannte sie der Duchesse allerhand triftige Gründe, die diese wiederum zu widerlegen suchte; sie war eine Frau, die ihre Umgebung beherrschte; die bescheidene Ehe ihrer Tochter verstimmte sie, sie empfand sie als eine Art Demütigung. Henriette erkannte, daß ihrer Mutter an Jacques und Madeleine wenig lag. Es war eine schreckliche Entdeckung. Wie alle Mütter, die gewöhnt sind, die verheiratete Tochter ebenso herrisch zu behandeln, wie sie das junge Mädchen behandelt haben, arbeitete die Duchesse mit Erwägungen, die keine Widerrede duldeten. Bald heuchelte sie verfängliche Freundlichkeit, um ihr eine Zustimmung zu entlocken, bald kühle Bitterkeit, um durch Einschüchterung zu erlangen, was sie durch Milde nicht erreichte; schließlich, als alle ihre Bemühungen sich als vergeblich erwiesen, entfaltete sie dieselbe Ironie, die ich von meiner Mutter kannte. In zehn Tagen lernte Henriette alle seelischen Qualen kennen, die junge Frauen der Kampf um ihre Unabhängigkeit kostet ... Sie, die Sie zu Ihrem Glück die beste aller Mütter haben, können das nicht verstehen. Um sich den Kampf zwischen einer spröden, kalten, berechnenden Frau und ihrer Tochter vorzustellen, die von mild herzlicher, nie versiegender Güte überfloß, denken Sie sich die Lilie, der ich sie immer vergleiche, zermalmt vom Räderwerk einer blinkenden Stahlmaschine. Es gab kein inneres Band zwischen dieser Mutter und ihrer Tochter. Sie erriet keine der wirklichen Schwierigkeiten, die Madame de Mortsauf zwangen, ihr Leben in Einsamkeit fortzusetzen, statt von den Vorteilen der Restauration Gebrauch zu machen. Sie schloß auf irgendeine Liebelei zwischen ihrer Tochter und mir. Dies Wort, dessen sie sich bediente, um ihren Verdacht zu äußern, riß unüberbrückbare Abgründe zwischen den beiden Frauen auf. Zwar ist es Familienbrauch, solch unerträgliche Spaltungen zu überdecken, aber dringen Sie nur tiefer ein, so werden Sie in den meisten tiefe, unheilbare Wunden entdecken, die die natürlichen Gefühle angreifen. Es gibt entweder wirkliche, ergreifende Leidenschaften, denen eine tiefst innerliche Gleichheit der Wesen ewigen Bestand verleiht; dann ist der Tod ein Schicksalsschlag, dessen düstere Folgen nicht mehr gutzumachen sind. Oder es gibt verborgenen Haß, der die Herzen allmählich vereist und der am Tage der ewigen Trennung die Tränen gefrieren läßt. Gestern gepeinigt, heute gepeinigt, von allen geschlagen, selbst von ihren beiden Leidensengeln, die unschuldig waren an den Schmerzen, die sie erduldeten, wie an denen, die sie verursachten: wie hätte diese arme Seele den nicht lieben sollen, der sie nicht schlug, der sie vielmehr mit einer dreifachen Hecke umringen wollte, um sie vor Stürmen, vor jeder unsanften Berührung, vor jeder Verwundung zu schützen! Zwar litt ich unter all diesen Reibereien; aber manchmal freuten sie mich, weil ich dann fühlte, daß Henriette sich auf meine Liebe stützte. Denn Henriette vertraute mir ihre neuen Leiden an. Da konnte ich ihr Ausharren im Schmerz, ihre geduldige Energie bewundern. Mit jedem Tag lernte ich den Sinn ihrer Worte besser verstehen: ›Lieben Sie mich, wie meine Tante mich liebte!‹
»Haben Sie denn keinerlei Ehrgeiz?« sagte mir bei Tisch die Duchesse mit harter Miene. »Madame«, antwortete ich und warf ihr einen ernsten Blick zu, »ich fühle in mir Kraft genug, die Welt zu bezwingen, aber ich bin erst einundzwanzig Jahre alt und ganz auf mich angewiesen.«
Sie blickte ihre Tochter erstaunt an, denn sie glaubte ja, daß ihre Tochter, um mich festzuhalten, jeden Funken Ehrgeiz in mir erstickte. Der Aufenthalt der Duchesse de Lenoncourt in Clochegourde war eine Zeit ständigen Zwanges. Die Comtesse empfahl mir, sorgsam den Schein zu wahren, ein leiseres Wort erschreckte sie, und ihr zuliebe mußte ich den Harnisch der Verstellung anlegen. Der große Donnerstag kam. Es war ein Tag langweiligen Zeremoniells, wie ihn die Liebenden hassen, die an das sanfte Sichgehenlassen des Alltags gewöhnt sind, die ihren angestammten Platz haben und sonst die
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