Die Lilie im Tal (German Edition)
waren in die Strahlen der untergehenden Sonne getaucht. Unsere spärlichen Worte, unsere Ausrufe sprachen die Gedanken aus, in denen wir uns von gemeinsamen Leiden ausruhten. Wenn Worte versagten, half uns das Schweigen, und unsere Seelen hielten ungehindert beieinander Einkehr, wir brauchten einander nicht zu küssen. Beide genossen sie den Reiz eines gedankenvollen Halbschlafs, folgten den Windungen einer gleichen Träumerei, tauchten zusammen in den Fluß und stiegen wieder erfrischt empor, zwei Nymphen gleich, die so eng miteinander vereint sind, wie ihr Sehnen es nur verlangen mag, doch ohne jedes irdische Band. Wir sanken in abgründige Tiefen, wir kamen mit leeren Händen wieder an die Oberfläche und fragten uns mit einem Blick: Wird wohl einer unter so vielen Tagen uns gehören? Warum sind unsere Sinne doppelt unruhig, wenn die Wollust solch wurzellose Blüten treibt? Trotz der erschlaffenden Poesie des Abends, der der Backsteinbalustrade so wohltuende und reine Orangetöne auftrug, trotz dieser andächtigen Atmosphäre, durch die das Schreien der Kinder gedämpft zu uns herüberdrang, trotz der Stille, die uns umringte, kreiste die Begierde wie die Flamme eines Freudenfeuers in meinen Adern. Nach drei Monaten gab ich mich mit dem, was mir eingeräumt war, nicht mehr zufrieden, und ich streichelte sanft die Hand Henriettes mit dem Wunsch, meine reiche, voll erglühte Lust möge in sie überströmen. Henriette wurde dann wieder Madame de Mortsauf und entzog mir ihre Hand. Tränen traten mir ins Auge; sie sah sie, warf mir einen milden Blick zu und führte ihre Hand an meine Lippen.
»So bedenken Sie doch«, sagte sie, »wieviel Tränen mich das kostet! Die Freundschaft, die so große Gunst verlangt, ist zu gefahrvoll.«
Ich konnte mich nicht mehr zurückhalten: ich erging mich in Vorwürfen, ich sprach von meinen Qualen und von dem bißchen Trost, das ich verlangte, um sie zu tragen. Ich wagte ihr zu sagen, in meinem Alter seien zwar die Sinne ganz Seele, aber die Seele sei nicht geschlechtlos, ich könnte wohl sterben, aber nicht mit verschlossenen Lippen. Sie gebot mir Schweigen mit ihrem stolzen Blicke, worin ich Caciques ›Und ich, bin ich auf Rosen gebettet?‹ zu lesen glaubte. Vielleicht war ich auch in einem Irrtum befangen. Seit dem Tage, wo ich ihr vor den Toren von Frapesle zu Unrecht den Gedanken zugetraut hatte, daß unser Glück auf einem Grab aufgerichtet würde, seit jenem Tage schämte ich mich, ihre Seele mit meinen rohen, leidenschaftlichen Begierden zu beflecken. Sie ergriff das Wort und sagte mir – ihr Mund war so süß –, daß sie mir nicht alles sein könne, daß ich dies wissen müsse. Da sie diese Worte sprach, war mir klar, daß ich Abgründe zwischen uns aufrisse, wenn ich ihr nicht folgte. Ich neigte den Kopf. Sie fuhr fort und sagte, daß sie die fromme Gewißheit habe, einen Bruder lieben zu können, ohne Gott und die Menschen zu verletzen; daß es süß sei, diese Liebe zu einem wirklichen Abbild der göttlichen Liebe zu machen, die nach den Worten des trefflichen Saint-Martin das Leben der Welt ist. Wenn ich für sie nicht in gewissem Sinne dasselbe sein könne wie ihr alter Beichtvater, weniger als ein Liebhaber, aber mehr als ein Bruder, so müßten wir unsern Verkehr abbrechen. Sie fühlte sich stark genug, zu sterben und das Übermaß ihrer quälenden, unter Tränen und Martern erduldeten Leiden zu Gott zu tragen.
»Ich habe schon mehr gegeben, als ich geben sollte«, sagte sie schließlich; »mehr darf ich mir nicht nehmen lassen. Schon für das wenige bin ich gestraft.«
Ich mußte sie beruhigen, ihr versprechen, sie nie zu betrüben und sie als Zwanzigjähriger zu lieben, wie Greise ihr letztes Kind lieben.
Tags darauf kam ich frühzeitig an. Sie hatte keine Blumen mehr für die Vasen ihres grauen Salons. Ich lief in die Weinberge und suchte dort Blumen, um ihr zwei Sträuße zu binden. Aber während ich eine nach der andern pflückte, sie an der Wurzel abschnitt und bewunderte, da bedachte ich, daß Farben und Laubwerk ihre eigene Musik haben, eine Poesie, die der Verstand begreift, indem das Auge entzückt wird – so wie Musik in Liebenden und Geliebten tausend Erinnerungen wachruft. Da Farbe organisches Licht ist, muß sie da nicht eine Bedeutung haben, wie sie die Luftschwingungen im Ton haben? Mit Jacques' und Madeleines Hilfe, die, wie ich, glücklich waren, unserm Liebling eine Überraschung zu bereiten, begann ich auf den untersten Stufen der Terrasse,
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