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Die Lilie im Tal (German Edition)

Die Lilie im Tal (German Edition)

Titel: Die Lilie im Tal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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wo wir das Hauptquartier der Blumen eingerichtet hatten, zwei Sträuße zu binden, die meine Gefühle sichtbar ausdrücken sollten. Stellen Sie sich ein Meer von Blumen vor, das aus zwei Vasen hervorquillt, in flockigen Wogen sich senkt und aus dessen Mitte meine Wünsche in weißen Rosen und silberkelchigen Lilien steigen. Auf diesem hellen Grund erglänzten Kornblumen, Vergißmeinnicht, lauter blaue Blumen, deren Himmelsfarbe sich gern mit Weiß vermählt; sind es nicht zwei Arten der Unschuld, die nichts weiß und die alles weiß, die eine ein Kindergedanke, die andere ein Märtyrergedanke? Die Liebe hat ihre Wappenkunde, und die Comtesse entzifferte sie im stillen. Sie warf mir einen jener durchdringenden Blicke zu, die dem Schrei eines Kranken gleichen, an dessen Wunde man rührt: sie war gleichzeitig beschämt und entzückt. Welcher Lohn lag in diesem Blick! Sie beglücken, ihr Herz erlaben – welcher Sporn war das! Ich erfand die Theorie des guten Pere Castel noch einmal für die Liebe, ich entdeckte für sie eine Wissenschaft wieder, die Europa abhanden gekommen ist, wo tintige Stilblüten die blühende, balsamgetränkte Blumensprache des Orients verdrängt haben. Wie reizvoll ist es, als Dolmetscher für seine Gefühle die Töchter der Sonne zu haben, die Schwestern der Blumen, die die Sonne der Liebe blühen ließ. Bald lernte ich die Sprache der Feldblumen verstehen, wie ein Mann, den ich später in Grandlieu traf, die Sprache der Bienen verstand.
    Zweimal wöchentlich während meines ganzen übrigen Aufenthalts in Frapesle machte ich mich von neuem an dies langwierige poetische Werk; zu seiner Vollendung waren alle Arten von Gräsern erforderlich, die ich eingehend studierte, nicht als Botaniker, sondern als Dichter, denn ich drang mehr in ihren Geist als in ihre Formen ein. Um eine Blume da zu finden, wo sie wuchs, ging ich oft viele Meilen weit, an den Rand des Wassers, in die Täler, auf den Grat der Felsen, mitten in die Heide, und wie eine Biene sammelte ich Gedanken in Wald und Flur. Auf diesen Gängen machte ich mich mit Freuden vertraut, die dem Gelehrten verschlossen sind, der in der Abstraktion lebt, dem Landmann, der sich nur um bestimmte Pflanzen kümmert, dem Handwerker, der an die Stadt gekettet ist, dem Kaufmann, den sein Kontor festhält; aber es gibt Forstleute, Holzhauer und Träumer, die kennen sie. Es finden sich in der Natur Erscheinungen, deren Ausdeutungsmöglichkeiten unbegrenzt sind und in denen man die höchsten seelischen Werte lesen kann. Bald ist es eine blühende Heide, von Taudiamanten übersät, darin die Sonnenstrahlen spielen, eine Unendlichkeit für den Blick, der zur rechten Zeit darauffällt. Bald ist es ein von Felstrümmern eingeschlossenes Stück Wald; sandig und moosbewachsen, mit Wacholderbüschen geschmückt, vom Schrei des Adlers durchhallt, ergreift es uns durch seinen wilden, schroffen, erschreckenden Charakter. Bald ist es eine heiße, unfruchtbare, steinige Heide mit jähen Abhängen, deren Horizonte wüstenähnlich verschwimmen: dort fand ich eine erhabene einsame Blume, eine Pulsatilla, deren Banner aus violetter Seide sich um den goldenen Blütenstaub breitete – ein ergreifendes Bild meines weißen Idols, das einsam in seinem Tale stand. Bald sind es große Wasserlachen, die die Natur mit grünen Flecken überzieht, einem Mittelding zwischen Pflanze und Tier, wo das Leben in wenigen Tagen keimt und Pflanzen und Insekten treibt, wie die großen Welten eine Welt für sich. Bald auch ist es eine Hütte mit ihrem Garten voller Kohlköpfe, ihren Reben, ihren Zäunen, die über eine Schlucht hängt und von mageren Roggenfeldern umringt ist: das Ebenbild so vieler bescheidener Existenzen. Bald ist es eine lange Waldallee, die dem Schiff eines Domes gleicht, wo die Bäume Pfeiler sind, wo die Äste die Gewölbebogen bilden; eine ferne Lichtung, wo helle und dunkle Töne ineinander übergehen oder die der Sonnenuntergang in einen roten Schein taucht, ist zwischen dem Laubwerk am Ende der Allee sichtbar und erinnert an die gemalten Fensterscheiben eines Chors voll singender Vögel. Und tritt man aus diesen frischen schattigen Wäldern heraus, so liegt da ein kreidiges Brachland, wo über das glühende, raschelnde Moos satte Blindschleichen sich hinschlängeln und ihre anmutigen feinen Köpfchen in die Höhe heben. Denken Sie sich über diese Bilder Ströme von Sonnenlicht ausgegossen, lebensspendende Fluten, oder graue Wolken gehäuft, die sich aneinanderreihen

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