Die Lilie im Tal (German Edition)
wie Runzeln auf der Stirn eines Greises, oder die kalten Töne eines mattgelben Himmels, den blaßblaue Streifen durchfurchen, und dann horchen Sie hin: Sie werden die unbeschreiblichen Melodien einer überwältigenden Stille hören. Während der Monate September und Oktober habe ich keinen Strauß zusammengestellt, der mich weniger als drei Stunden sorgfältigen Suchens gekostet hätte, so sehr bewunderte ich mit dem wohligen Sichgehenlassen des Dichters die flüchtigen Gleichnisse, die mir die widerstrebendsten Formen des menschlichen Lebens malten, erhabene Schauspiele, aus denen meine Erinnerung jetzt schöpft. Noch heute sehe ich oft jene großen Ereignisse im Schimmer der Seele, die damals über die Natur ausgebreitet war. Noch sehe ich dort die königliche Herrin wandeln, deren weißes Kleid durch das Dickicht glitt und über Wiesen hinflatterte ... Jedem Kelch voll liebedurstigen Blütenstaubes entstieg der Gedanke an sie wie die verheißene Frucht.
Keine Liebeserklärung, keine Äußerung sinnloser Leidenschaft war je unwiderstehlicher und überzeugender als diese Blumensymphonien, worin meine ungestillte Begierde mich eine seelische Kraft entfalten ließ, wie sie Beethoven in Noten kundgab; war doch seine Musik tiefe Einkehr in sich selbst, himmelstürmende Wucht. Madame de Mortsauf war beim Anblick der Blumen nur noch Henriette, immer wieder kehrte sie zu ihnen zurück, sie nährte sich von ihnen; sie enträtselte die Gedanken, die ich hineingelegt hatte, wenn sie von ihrem Stickrahmen aufsah, und sagte: »Gott, wie schön das ist!« – Sie werden den liebreizenden Verkehr, dessen sich jede einzelne Blume im Strauß bediente, an einem Beispiel verstehen, wie Sie nach einem Bruchstück die Dichtungen Saadis beurteilen könnten. Ist Ihnen im Mai auf den Wiesen der Duft aufgefallen, der allen Wesen trunkene Liebeslust einflößt, der, wenn Sie im Boote sitzen, Sie die Hand ins Wasser tauchen, Ihr Haar dem Winde preisgeben heißt und der Ihre Gedanken wieder grünen macht wie die Bäume im Wald? Ein kleines duftendes Gras bildet den Grundton dieser symbolischen Harmonie; auch kann es niemand ungestraft bei sich tragen. Fügen Sie seine glänzenden, gestreiften Halme, die einem Gewebe mit grünen und weißen Strichen gleichen, in einen Strauß, so werden unversiegbare Duftströme die Rosenknospen auf dem Grund Ihres Herzens wachküssen, die sich dort schamhaft duckten. Denken Sie sich um die weite Öffnung der Porzellanvase einen Wulst, ausschließlich aus den weißen Büscheln des in den Weinbergen der Touraine heimischen Hauswurzes gebildet: eine Ahnung der begehrten Formen, die zusammengekauert liegen wie die einer gehorsamen Sklavin. Aus diesem Unterbau streben in Spiralen weißglockige Winden empor, dazu rosiger Ochsenbrach mit einigen Farnkräutern und jungem Eichlaub, wunderbar an Farbe und Glanz. Das alles kommt heran, demütig gebeugt wie Trauerweiden, zaghaft und flehend wie Gebete. Darüber hinausragend die schlanken wehenden Gräser des purpurblühenden Zittergrases, von dem der gelbliche Blütenstaub niederrieselt, die schneeigen Pyramiden des Feld- und Wasserrispengrases, das grüne Haar der fruchtlosen Trespe, die schlanken Federbüsche der Feldgräser, die man Windähren nennt: blaßviolette Hoffnungen, die erste Träume krönen und die sich vom blaugrauen Grunde abheben, wo das Licht um blühende Gräser spielt. Etwas höher ragen einige bengalische Rosen, im krausen Spitzenwerk des Möhrenkrauts verstreut, die Marabukrausen der Spierstauden, die Dolden des wilden Kerbels, das Blondhaar der reifen Klematisfrucht, die niedlichen Kreuzchen des milchweißen Kreuzblattes, die Doldentrauben der Schafgarben, die weitverzweigten Stengel des Erdrauchs mit seinen rosa und schwarzen Blüten, die Ringelranken der Rebe, die schlangenartigen Geißblattzweige – kurz, was diese naiven Blumenkinder nur Zerzaustes und Zerrissenes haben, Flammen und dreifach geschliffene Dolche, lanzettförmige und ausgezackte Blätter, qualvoll gewundene Stiele, gleich Wünschen, die auf dem Grund der Seele durcheinanderwirren ... Mitten aus diesem reichen überschäumenden Sturzbach von Liebe reckt sich ein wundervoller gefüllter Mohn zwischen seinen zum Bersten reifen Kapseln; seine leuchtenden Flammen züngeln über weißen Jasminsternen und überragen den unaufhörlichen Blütenstaubregen, der einer schönen Wolke gleich in der Luft glitzert und in seinen tausend glänzenden Stäubchen das Licht fängt. Welche Frau,
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