Die Lilie im Tal (German Edition)
Mensch immer Herr über dergleichen, er ist darin von unberechenbaren Umständen abhängig. Sie werden weder den Schmutz der Gasse noch den Ziegelstein, der Ihnen aufs Haupt fällt, vermeiden können. Es gibt – bildlich gesprochen – Gassen, woraus ehrlose Menschen die Edelsten mit dem Kote zu bespritzen suchen, in dem sie ertrinken. Aber Sie können überall Achtung erwerben, wenn Sie sich, auf allen Gebieten, unerschütterlich in Ihren letzten Entschließungen zeigen. Gehen Sie in diesem Wirrwarr ehrgeiziger Bestrebungen, mitten in diesem Labyrinth von Schwierigkeiten, immer gleich auf die Hauptsache los, packen Sie mit voller Entschiedenheit die Kernfrage an, und kämpfen Sie stets mit allen Ihren Kräften nur an einem Punkte! Sie wissen, wie sehr Monsieur de Mortsauf Napoleon haßt; er verfolgte ihn mit seinem Haß, er überwachte ihn, wie die Polizei einen Verbrecher, und forderte immer wieder den Duc d'Enghien von ihm zurück, dessen Tod das einzige tragische Los war, das ihm je Tränen entrissen hat.
Aber trotz alledem bewundert der Comte Napoleon als den kühnsten aller Feldherren und hat mir oft seine Taktik klarzumachen versucht. Läßt sich denn diese Kriegskunst nicht auf den Interessenkampf anwenden? Mit ihr könnte man hier Zeit sparen, wie im Kriege Menschenleben und Entfernungen gespart werden. Denken Sie daran, denn eine Frau kann leicht fehlgehen in den Dingen, die sie nur instinkt- und gefühlsmäßig beurteilt! Ich kann auf einen Punkt näher eingehen: jede Verschmitztheit, jede Betrügerei kommt an den Tag und schadet. Jede Lebenslage erscheint mir minder gefährlich, sobald der Mensch sich auf den Boden der Ehrlichkeit stellt. Wenn ich meine eigenen Erfahrungen anführen wollte, müßte ich Ihnen erzählen, daß ich in Clochegourde durch den Charakter Monsieur de Mortsaufs gezwungen war, jedem Zank aus dem Wege zu gehen, jede Zwistigkeit sofort beizulegen, weil sie für ihn wie ein zwar willkommenes, aber höchst verderbliches Leiden gewesen wäre; und doch bin ich zum Schluß immer gerade auf den Knoten losgegangen und habe dem Gegner gesagt: ›Wir wollen ihn lösen oder zerschneiden!‹ Sie werden oft andern nützen, ihnen Dienste leisten und wenig Lohn dafür ernten; aber tun Sie nicht wie jene, die immer über die Menschen klagen und sich rühmen, überall nur Undankbare zu finden. Heißt das nicht, sich selbst auf ein Piedestal stellen? Und ist es nicht ein wenig naiv, seine mangelnde Weltkenntnis einzugestehen? Aber sollen Sie Gutes tun, so etwa, wie ein Wucherer sein Geld ausleiht? Sollen Sie es nicht um des Guten selbst willen tun? Noblesse oblige! Immerhin, erweisen Sie keine Dienste, die andere zur Undankbarkeit zwingen könnten, denn so würden Sie sich unversöhnliche Feinde machen! Es gibt eine Verzweiflung des Verpflichtetseins, wie es eine Verzweiflung des Untergangs gibt; beide verleihen unberechenbare Kräfte. Sie selbst dürfen von andern nur sowenig wie möglich annehmen; seien Sie keines Menschen Lehnsmann, stellen Sie sich ganz auf sich selbst! Ich berate Sie nur in den kleinen Dingen des Lebens, mein Freund. In der politischen Welt ist der Wechsel die Regel. Da müssen Ihre eigenen Prinzipien den großen Interessen weichen. Sollten Sie aber in die Sphäre gelangen, wo die Größten wohnen, so wären Sie, Gott gleich, alleiniger Richter Ihrer Entschlüsse. Dann sind Sie kein Mensch mehr, sondern das lebendige Gesetz, kein Individuum, sondern der Geist, der sich in der Nation verkörpert. Aber wenn Sie richten, werden auch Sie gerichtet werden, Sie werden vor dem Tribunal der Jahrhunderte erscheinen müssen, und Sie wissen soviel Bescheid in der Geschichte, um ermessen zu können, welche Gedanken und Taten zu wahrer Größe führen.
Ich komme zur ernstesten Frage: zu Ihrem Verhalten gegen Frauen. Machen Sie es sich zur Regel, die kleinliche Koketterie der Salons zu übergehen! Vergeuden Sie sich nicht! Einer der Männer, die im vorigen Jahrhundert den meisten Erfolg hatten, pflegte sich an einem Abend ausschließlich um eine Dame zu kümmern und sich besonders denen zu widmen, die vernachlässigt schienen. Dieser Mann, liebes Kind, hat seine Zeit beherrscht. Er hatte richtig berechnet, daß in absehbarer Zeit sein Lob in aller Munde wäre. Die meisten jungen Leute verpassen die wertvollsten Gelegenheiten gerade dann, wenn sie sich Beziehungen schaffen sollten, die ja die Hälfte des gesellschaftlichen Lebens sind. Da Sie von Haus aus gefallen, bleibt Ihnen wenig zu tun,
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