Die Lilie im Tal (German Edition)
und seinen Schwierigkeiten nichts wissen. Der alte Kritiker ist sanft und gütig, der junge erbarmungslos. Der eine weiß alles, der andere weiß nichts. Übrigens liegt jeder menschlichen Handlung ein Labyrinth von bestimmenden Motiven zugrunde, deren endgültige Beurteilung Gott vorbehalten ist. Seien Sie nur gegen sich selbst streng! Vor Ihnen liegt Ihr Glück, aber niemand in der Welt kann ohne Freundesbeihilfe seinen Weg machen. Suchen Sie oft das Haus meines Vaters auf – es steht Ihnen offen! Die Beziehungen, die Sie dort anknüpfen werden, können Ihnen bei tausend Gelegenheiten nützlich sein. Aber lassen Sie meine Mutter nicht einen Fingerbreit Boden in Ihnen gewinnen! Sie erdrückt den, der ihr nachgibt, und bewundert den Stolz, der ihr trotzt. Sie gleicht dem Eisen, das sich nur mit Eisen zusammenschmieden läßt, dessen Berührung aber weniger harte Stoffe zerbricht. Unterhalten Sie gute Beziehungen zu meiner Mutter; wenn sie Ihnen wohlwill, wird sie Ihnen Eintritt in Salons verschaffen, wo Sie sich die unumgängliche Weltgewandtheit aneignen können, die Kunst, zuzuhören, zu sprechen, zu antworten, sich vorzustellen und zu verabschieden, die treffsichere Ausdrucksweise und das undefinierbare Etwas, das ebensowenig die Überlegenheit ausmacht wie das Kleid das Genie, ohne das aber die schönsten Talente sich nicht durchsetzen können. Ich kenne Sie hinreichend, um gewiß zu sein, daß ich mich nicht Illusionen hingebe, wenn ich Sie im voraus so sehe, wie ich Sie wünsche: einfach in Ihrem Auftreten, freundlich in Ihrer ganzen Art, stolz ohne dumme Eitelkeit, Greisen gegenüber ehrerbietig, zuvorkommend, ohne Kriecherei, vor allem diskret. Entfalten Sie Ihren Geist, aber machen Sie sich nicht andern zum Narren! Bedenken Sie wohl, daß, wenn Ihre Überlegenheit einen Durchschnittsmenschen verletzt, er zwar schweigen, aber nachher von Ihnen sagen wird: Er ist sehr ergötzlich! – was Verachtung bedeutet. Ihre Überlegenheit sei immer die eines Löwen. Suchen Sie aber nicht den Menschen in allem zu gefallen! In Ihren Beziehungen zu andern empfehle ich Ihnen eine Kühle, die sich bis zur Anmaßung steigern mag, an der sich jedoch niemand stößt. Jedermann achtet den, der ihn geringschätzt, und diese Mißachtung wird Ihnen die Gunst der Frauen sichern, die Sie in dem Maße schätzen werden, wie Sie selbst andere Männer geringschätzen. Dulden Sie nie Leute um sich, die die allgemeine Achtung verloren haben, und wären sie selbst unschuldig! Denn die Welt verlangt Rechenschaft von uns über unsere Freundschaften und Feindschaften. Hierin müssen Ihre Entscheidungen reiflich überlegt, aber dann unwiderruflich sein. Merkt man erst, daß Leute, die Sie abgewiesen haben, Ihr ablehnendes Verhalten verdient hatten, so wird Ihre Wertschätzung im Preise steigen, so werden Sie die unausgesprochene Hochachtung einflößen, die einen Menschen unter Menschen groß macht. – So, nun sind Sie gut ausgerüstet, mit Jugendlichkeit, die bezaubert, mit Liebreiz, der bestrickt, und mit Weisheit, die Erobertes festzuhalten weiß. Alles, was ich Ihnen bisher gesagt habe, läßt sich in einem altbekannten Wort zusammenfassen: Noblesse oblige!
Wenden Sie diese Grundsätze auf Ihre praktische Lebensgestaltung an! Sie werden vielfach sagen hören, daß Durchtriebenheit eine Vorbedingung zum Erfolge sei und daß man sich mit den Ellenbogen einen Weg durch die Menge bahnen müsse. Mein Freund, solche Grundsätze waren im Mittelalter am Platze, als Fürsten noch rivalisierende Parteien gegeneinander auszuspielen hatten. Aber heute geschieht alles in der Öffentlichkeit, und ein derartiges System käme Ihnen teuer zu stehen. Sie werden es in der Tat entweder mit einem ehrenwerten, aufrichtigen Mann zu tun haben oder mit einem verräterischen Gegner, einem Manne, der mit Verleumdungen, Verdächtigungen und Betrug,arbeitet. Nun, in ihm haben Sie den stärksten Helfer, denn er ist sein eigener Feind. Sie können ihn mit ehrlichen Waffen bekämpfen, er wird früher oder später verachtet werden. Einem Ehrenmann gegenüber wird Ihre Aufrichtigkeit Achtung einflößen, und wenn Sie erst Ihre Interessen den seinen anschließen – das kann man alles einrichten! –, wird er Ihnen helfen. Fürchten Sie nicht, sich Feinde zu machen! Wehe dem, der in der Welt, wo Sie leben werden, keine Feinde hat! Aber setzen Sie sich – wo möglich – weder der Lächerlichkeit noch der Mißachtung aus! Ich sage: wo möglich!- Denn in Paris ist kein
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