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Die Lilie im Tal (German Edition)

Die Lilie im Tal (German Edition)

Titel: Die Lilie im Tal (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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fuhr in die Höhe. »Es ist nichts.«
    Ich las in ihrer Seele und antwortete ihrem geheimen Gedanken mit den Worten: »Kennen Sie denn Ihren alten treuen Sklaven nicht wieder?«
    Sie nahm meinen Arm, verließ den Comte, ihre Kinder, den Abbé, die herbeigeeilten Leute und führte mich weg von allen, schritt mit mir um einen Rasenplatz; aber alle konnten uns sehen. Dann, als sie sicher war, daß ihre Stimme nicht gehört werden könne, sagte sie:
    »Felix, mein Freund, verzeihen Sie die Angst einem Menschen, der nur einen Faden hat, um seinen Weg durch ein unterirdisches Labyrinth zu finden, und der fürchtet, diesen Faden reißen zu sehen! Sagen Sie es mir noch einmal, daß ich mehr denn je Henriette für Sie bin, daß Sie mich nie verlassen werden, daß nichts mich verdrängen kann, daß Sie mir immer ein treu ergebener Freund sein werden! Ich habe in die Zukunft geblickt und fand Sie dort nicht mehr wie sonst, mit leuchtendem Antlitz, die Blicke auf mich gerichtet: Sie kehrten mir den Rücken zu.« – »Henriette, Göttin, deren Verehrung mir höher als die Gottes steht, Lilie, Blüte meines Lebens, wissen Sie denn nicht mehr, daß Sie mein Gewissen sind, daß ich so sehr in Ihr Herz hineingewachsen bin, daß meine Seele hier ist, während mein äußerer Mensch sich in Paris bewegt? Muß ich Ihnen erst sagen, daß ich in siebzehn Stunden hierhergekommen bin, daß jede Umdrehung des Rades eine Welt von Gedanken und Begierden mitriß, die sturmgleich aufbrausten, sobald ich Sie sah?« ... »O sprechen Sie, sprechen Sie! Ich bin meiner sicher; ich kann Ihnen zuhören, ohne damit ein Verbrechen zu begehen. Gott will nicht, daß ich sterbe: er schickt Sie nur, wie er seinen Atem über seine Geschöpfe gehen läßt, wie er den Wolkenregen über dürres Land ausgießt. O sagen Sie: lieben Sie mich, wie ein Heiliger liebt?« – »Wie ein Heiliger?« – »Auf ewig?« »Auf ewig!« – »Wie die Jungfrau Maria, deren Schleier sie immer umgeben, deren weißer Kranz sie immer krönen muß?« –»Wie eine Mensch gewordene Jungfrau Maria!« – »Wie eine Schwester?« – »Wie eine zu heiß geliebte Schwester!« – »Wie eine Mutter?« – »Wie eine Mutter, die man im geheimen begehrt!« – »Ritterlich? Hoffnungslos?« – »Ritterlich, aber hoffend!« – »Kurz, als wären Sie schon zwanzig Jahre alt und trügen hoch den abscheulichen kleinen blauen Anzug vom Ball?« – »Oh, weit mehr! Ich liebe Sie so, und ich liebe Sie auch, wie ...« Sie sah mich an, voll heißer Furcht. »... wie Ihre Tante Sie liebte!« – »Ich bin glücklich, Sie haben die Angst von mir genommen«, sagte sie, als wir zur Familie zurückkehrten, die sich über unsere geheimen Verhandlungen wunderte; »aber seien Sie hier ganz Kind, denn Sie sind noch ein Kind. So gut die Klugheit Ihnen vorschreibt, dem König gegenüber ein Mann zu sein, müssen Sie hier, wo es von Ihnen verlangt wird, ein Kind bleiben. Als Kind werden Sie geliebt werden, der Gewalt des Mannes werde ich immer widerstehen; aber was sollte ich dem Kinde abschlagen?! Nichts! Denn es kann nichts fordern, was ich nicht gewähren dürfte. – Die Geheimnisse sind erledigt«, sagte sie schalkhaft zum Comte, und sie sah ihn mit Augen an, worin ihre Mädchenhaftigkeit und ihr ursprüngliches Wesen wiedergekehrt waren. »Ich verlasse Sie jetzt, ich will mich umziehen.«
    In den drei Jahren hatte ihre Stimme nie so glücklich geklungen. Zum ersten Mal hörte ich diese hübschen Schwalbentöne, diesen kindlichen Klang, wovon ich Ihnen erzählt habe. Ich brachte Jacques eine Jagdausrüstung mit und Madeleine einen Nähkasten wie den, dessen sich ihre Mutter stets bediente. Endlich konnte ich die Knauserei wieder gutmachen, zu der mich früher die Sparwut meiner Mutter gezwungen hatte. Die Freude der beiden Kinder, die sich beglückt ihre Geschenke zeigten, schien dem Comte lästig zu sein, der schlechter Laune war, sobald man sich nicht mit ihm beschäftigte. Ich winkte Madeleine verständnisvoll zu und folgte dem Comte, der mir von sich erzählen wollte. Er führte mich zur Terrasse; unterwegs aber blieben wir stehen, sooft er mir eine bedeutsame Mitteilung machte.
    »Mein guter Felix«, sagte er, »Sie sehen hier alle glücklich und gesund. Es gibt nur einen Schatten auf diesem Bild, und das bin ich. Aller Leiden habe ich auf mich genommen, und ich danke Gott, daß er sie mir aufgebürdet hat. Früher wußte ich nicht, was mir fehlte, aber jetzt ist es mir klar: mein Magen ist

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